DIE SIMULATIVE KRAFT DES ARBEITSFETISCHS
Text-in-Progress von Thomas Unger, #1.1

Zu einer Seite in Jean Baudrillards "Der symbolische
Tausch und der Tod"

Was Baudrillard "in wenigen Sätzen" leistet, ist eine Dekonstruktion
des Arbeitsfetischs. Die Aufdeckung, ja Verhöhnung ihrer (der Arbeit) scheinbaren Gegensätzlichkeit zur Freizeit (vgl. Zitat S. 23), und, weitergehend und - das Entstehungsjahr (1978) betrachtet - hellsichtiger als viele MarxologInnen, der gesellschaftlichen Funktion von Arbeit: nämlich ihrer (momentan so umwerfend beobachtbaren und unmittelbar an rassistische und antisemitische Motive anknüpfenden) Überhöhung im Zeichen ihrer Krise. Wie heute alle Fetische rund um die Arbeit (ihre scheinbare Gegensätzlichkeit zur Freizeit, zur Arbeitslosigkeit, aber auch zur Arbeit in anderen Staaten) verstärkt werden "von Kapital und Gewerkschaften", mündend in eine völkische Organität von beeindruckender Rationalität (und Funktionalität: Wer bezweifelt heute die Notwendigkeit des Arbeits-/Standortsicherns, des Grenzsicherns und Abschiebens, der Ablehnung der EU-Sanktionen?). Insofern liegt Baudrillard wohl falsch, wenn er behauptet, daß statistische Wirtschaftsdaten "nicht einmal mehr die Kraft haben, die Phantasie des Kollektivwillens anzuregen" (S. 24). Möglicherweise hat er in dieser "Phantasie des Kollektivwillens" aber auch noch ein positives, revolutionäres Element gesehen, von dem es sich abzugrenzen, das es zu widerlegen galt. Daß Arbeit heute aber "als Moral, als Konsens, als Steuerung" abseits ihrer produktiven Notwendigkeiten zur Kapitalakkumulation dient, als "Ritual von Zeichen der Arbeit"(ebd.), die tatsächlich als Verweis auf eine verlorene Referenz funktionieren, ist unübersehbar. Und diese "Sozialisation durch das Ritual", mit dem Ziel,"im allgemeinen Szenario der Produktion als Zeichen zu fungieren", ist zweifellos "sehr viel wirksamer [...] als die durch die in der Produktion steckenden Energien"(ebd.). Arbeit als "gesellschaftliche Zuteilung": nicht eines Jobs (das auch, aber zweitrangig), sondern einer Funktion "als ZeichenträgerIn: Seht her, es gibt sie noch, sie ist wichtiger denn je, nicht mitspielen gibt's nicht."

Gegengabe
Das Problem daran: daß Baudrillard diese Interpretation nicht teilte. Für ihn gibt es keine Macht, keinen Fetisch (mehr), das Gesetz der Dialektik von Produktion und Zirkulation ist völlig außer Kraft gesetzt, da von der Zirkulation einseitig gekündigt. Wo derartiges aber nicht ist, wo sich die Differenzen in ihrer Potenzierung in Indifferenzen gewandelt haben und nur das freie Flottieren und Zirkulieren der Signifikanten in völliger Abkoppelung ihrer oder irgendwelcher Signifikate existiert, da kann kein Fetisch sein. Welches Reale sollte er auch verbergen; wen täuschen? Der Fetisch gehorcht dem selben Gesetz wie Dialektik: dem der distinkten Oppositionen. Diese jedoch sind nicht mehr ausmachbar. Dazu müssten die Zeichen neben ihrer strukturalen Dimension (der Beziehbarkeit zu allen anderen Zeichen bzw. Werten) noch über ihre funktionale Dimension verfügen: die eindeutige Beziehung zum Realen, der Produktion, kurz: das Realitätsprinzip. Das wäre der Gebrauchswert.

Gebrauchswert
Womöglich hat Baudrillard eben dessen Rolle überschätzt. Gleichwohl ist es unbestreitbar, dass der Wert (im Sinn der Politischen Ökonomie) seine Verdinglichung in egal welchem Gebrauchswert erfahren muss, um realisiert werden zu können. Geschieht das nicht, kommt es nicht zum (fetischisierten) Warenvergleich bzw. zur Äquivalentsetzung abstrakter gesellschaftlich notwendiger Arbeit(szeit)en.

Im Zug der Globalisierungsdebatte über Turbo- und andere auswüchsige Kapitalismen (die immerhin das Wort "Kapitalismus" wieder gebräuchlich werden haben lassen, für Baudrillard wohl ein weiterer Beweis von dessen Nicht-mehr-Existenz) scheint eine "traditionell ebenso gebräuchliche wie belastete Unterscheidung" (vgl. Moishe Postone) wieder populär zu werden: jene zwischen produktivem und zirkulierendem Kapital (in NS-Diktion: schaffendes und raffendes Kapital/Arbeit). Baudrillard übersieht diese Problematik (die ja ebenfalls einem Fetisch, dem des Kapitals, entspricht) zumindest, wenn er sie nicht sogar bewusst forciert: etwa wenn er behauptet, die "Abschaffung des Zwecks der Produktionsinhalte" ermögliche "dem Geldzeichen, sich in einer unbegrenzten Spekulation zu verflüchtigen, außerhalb jeder Referenz zu einem Realen in der Produktion oder gar zu einem Goldstandard" (S. 18). Denn dieser "tatsächlich in den 80ern(?) aufgegebene" Goldstandard (die USA behaupteten dereinst, jeden US-Dollar in Gold zurücktauschen zu können) war ebenfalls nur Ausdruck des Kerns der Produktion: der Verausgabung abstrakter menschlicher Arbeit. Wohlweislich spricht daher auch Baudrillard nie von dieser, immer nur verschlüsselt über die "Produktion". Abstrakte menschliche Arbeit scheint aber nach wie vor - und seit Marx - das Grundlegende der Schaffung von Wert zu sein. Hier irrt Baudrillard nicht, hier leugnet und "fetischisiert" er. Und er fetischisiert aus gutem Grund. Erstens wäre die Analyse sonst nicht haltbar, und zweitens gingen so einige umwerfende Beobachtungen verloren. Denn Baudrillard trifft gut. Er holt nur ein bißchen weit aus für seine Schläge.

Thomas Unger (16.5.2000)
thomas.unger@reflex.at
Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, Matthes und Seitz 1982 (frz. 1976).