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Ernst M. Binder

SILENCE
Ein Plädoyer für eine Welt von Sinnen

I would like to sing someone to sleep,
have someone to sit by and be with.
I would like to cradle you and softly sing,
be your companion while you sleep or wake.
I would like to be the only person
in the house who knew: the night outside was cold.
And would like to listen to you
and outside to the world and to the woods.

The clocks are striking, calling to eachother,
and one can see right to the edge of time.
Outside the house a strange man is afoot
and a strange dog barks, wakened from his sleep.
Beyond that there is silence.

My eyes rest upon your face wide-open;
and they hold you gently, letting you go
when something in the dark begins to move.

Rainer Maria Rilke - To Say Before Going To Sleep
Translatet by Albert Ernest Flemming

Wie diese Welt erklären, wenn nicht in Form eines Gedichts, das man innerlich bewegt in den Sand schreibt, bevor die Flut kommt, in der Hoffnung, daß als Ersatz für dies Gedicht ein Hühnergott - das ist ein Stein, in den das Wasser ein Loch hinein- und ihm damit die Seele herausgewaschen hat - angeschwemmt wird, durch den man schauen kann, und dann die Welt sich öffnet, als schaute man durch sie hindurch, als sei sie Frau und Mutter und Geliebte, als könnte ich jemals zurück...

Nein! Liebesgedicht will nicht geschrieben sein und nicht gedacht, will ge- und erlebt werden, will von Sinnen sein, außer sich geraten, wenn die Sonne aufgeht eines Tags im Westen und die Abendröte noch vor dem Tag sich ins Gedächtnis brennt.

WO WAR DER SPASS IN DEINEM LEBEN?, wird der Nachtwind fragen, und wird keine Antwort bekommen, sondern ein Achselzucken. Schließlich ist es keine Schicksalsfrage: Sie stellt sich nicht im Moment einer Entscheidung, sie hinterfragt Vergangenes nicht schonungslos, und das Ergebnis ist zumeist ein - je nachdem wie man gerade drauf oder veranlagt ist - bemühtes Blättern im Bilderbuch der privaten Geschichtsfälschung, oder ein kurzes Aufflackern wehmütiger Erinnerungen. Oder man stellt sich, und verweigert sich der allzu rasch und vorgefertigt auf der Zunge wie in einem Supermarktregal unter EVALUIERUNG abgelegten Erkenntnis, daß alles bisher Erfahrene nur ein Puzzlestein war und ein Teil von dem, zu dem man wurde, und was man jetzt zu sein scheint oder ist.

Doch sei die Frage dann erlaubt, was denn die Frage soll? Jetzt mal abgesehen davon, ob es erlaubt ist, Spaß zu haben angesichts der 38 % aidsinfizierten Einwohner Nigerias, angesichts der unschuldigen Opfer im Nahen Osten, deren Identität bloß darin besteht, mit 15 Anderen denselben Bus bestiegen zu haben, oder zufällig bei der Nichte eines Hamas-Führers zu Besuch gewesen zu sein... ANGESICHTS... Welch blödes Wort: dies ANGESICHTS... Kann man es heute überhaupt verwenden, wo Bilder unsern Blick betrügen und uns schmeicheln, indem sie uns Fenster um Fenster öffnen, uns Landstriche an die Mauern projizieren mehr als Picasso je skizzieren konnte, und uns die Zeit vertreiben, und eine Wirklichkeit vortäuschen, die nicht mehr hinterfragt werden kann durch das eigene Erlebt-Haben, weil die Zeit verloren ungeliebt zurückgelassen unter einer Brücke Zuflucht finden mußte... Und unabhängig davon: Ist Wahrnehmung jenseits fremdbestimmter Definition von Sein überhaupt möglich? Und wenn, hat man denn dann die andere, die zum Fliehen drängende Zeit, sie durch den Virenscannner laufen zu lassen, ohne daß das Leben ungelebt vorüberzieht?

"Je weniger Parallelen man ziehen kann zwischen Menschen, die man kennenlernt, und Menschen, die man kennt, desto mehr Mensch ist man. Man will eigentlich kein Deja-vu", schreibst du, "denn das verlangweilt uns den Tag. Schließlich sind wir zu erwachsen, um nicht zu wissen, daß wir jeden Menschen mit großen Augen bestaunen können... Und arrogant genug, Leute durch ein Raster fallen zu lassen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben..."

"Das Leben ist kurz", sagst du. "Lang genug, um Fehler zu machen, aber zu kurz, um sich aufhalten zu lassen."

WO IST DER SPASS IN MEINEM LEBEN? : An einer Würstelbude zu stehn und sich am Ende eines geglückten Tags einen Hungeranfall zu gönnen? Auf einem Jahrmarkt rote Rosen zu schießen? Zu ESPRIT zu gehn und sich Hose, Hemd und Socken im Safari-Look zu kaufen? In einer Disco abzutanzen, um sich einmal richtig zu vergessen? An die Ostsee zu fahren und Christa Wolf zu lesen? Nach einem Lotto-Gewinn auf einen Aussichtsturm zu steigen, und ein Bündel 100-Euro-Scheine auf die unten auf den im Gebüsch pissenden Buschauffeur wartende Pensionisten-Ausflugs-Gruppe herabregnen zu lassen? Das Mozart-Requiem von den Wiener Philharmonikern - dirigiert von Herbert von Karajan - zu hören? In einem Anflug postalkoholischer Geilheit mit einer Chat-Bekanntschaft zu ficken und von Orgasmus zu Orgasmus zu jagen? Rainer Maria Rilke nach 30 Jahren wiederzuentdecken? Auf einem Berggipfel einen Sonnenaufgang zu erleben? In Capri der roten Sonne zuzusehn, wie sie im Meer versinkt? In 3sat eine BBC-Doku über den Irak zu sehen? Sich am Abend todmüde ins Bett fallen zu lassen und in der gleichen Sekunde einzuschlafen? Einer alten Frau über die Straße zu helfen? Das Mozart-Requiem von den Berliner Philharmonikern - dirigiert von Herbert von Karajan – zu hören? Jemanden zu umarmen, weil einem gerade danach ist? Allein zu Hause zu sitzen und in die Luft zu schauen? Zu weinen, weil man gerade draufgekommen ist, wie schön das Leben ist...

Ich bin nicht auf der Suche, und du bist nicht greifbar... Da ist kein Nebel, sondern ein viel zu klares Licht... Keine Idee bist du oder Vorstellung, und auch kein Spiegel, in den man schaut und denkt, man könnte dich darin entdecken... Du bist das, das sich nicht berühren läßt, und dem man kein Geschlecht zuordnen kann... Ja, schön wäre es, wenn du die Frau wärst, die man nicht mit seinen Erfahrungsmustern erklären kann, die unberechenbar ist, jeder für sich selbst sehr auf sich selbst zurückgeworfen, ohne Deja-vu-Erlebnisse, die vermeintlich Unerklärliches in weit zurückliegend Vergangenes katapultieren könnten... Nein, es gibt nix Vergleichbares auf der Welt, dem ich bis jetzt begegnet wäre... Nix als dich, die es noch zu schauen geben wird... Nix, das so ist wie du... Nix, das es wert wäre, draußen im Regen zu stehen, an der Hafenmauer... Nix, wo die alten abgegriffenen Bilder nochmal richtig greifen, ordentlich reinhaun ins melancholisch Monolithische, und man doch wieder nur bei sich gelandet ist, nachdem man dich schon wieder nur gespürt, und wieder nun: Der heimatliche Flughafen, den man übers Meer anfliegt und wie eine Welle am Jetlag zerbricht. Allein-Sein wieder unter Tausenden von Menschen und genau zu wissen, daß es diese Form von Freiheit ist, die du meinst, und die ich meine, und die es nur gibt, wenn man dieses Verloren-Sein akzeptiert: Dieses Streicheln deiner Möse als ein Begehren von etwas außerhalb von mir, das ich mir aber nicht aneignen kann und will, obwohl sie meine Zunge netzt beim Spiel der Lippen... Dieses in die Hand nehmen meines Schwanzes nicht nur als ein Ding, das hart und steif von mir wegsteht... Den Unterschied zwischen Frau und Mann akzeptieren: Akzeptieren, daß dein Geschlecht in deinem Körper eingebettet ist, und die Gedanken und die Verzückung in dir sind, dich verletzbar machen... Und bei mir steht etwas weg, verweist auf etwas außerhalb von mir. Auf was: Auf Gott? Auf NICHTS? Auf meine Kraft, auf meine Stärke? Ja, das Schwert steht so weg, der Obelisk, die Gitarre, der Zeigefinger weist den Weg: "Wohin?" "Dann halt ihn in den Wind!" Das tu ich jetzt : der Wind ist dein Atem... DER Atem... Unser Herz schlägt die zehnte Stunde und ich stelle mir mal vor, es ist UNSER Atem, der uns ins Gesicht weht als ein Gegenwind, der uns die Haare zaust, und die Gefühle flattern läßt, unsere Gedanken frei und einsam macht...

Es sind immer diese banalen Dinge, die uns rat- und rastlos immer wieder in uns selbst zurück- und hineinstoßen: daß man sich nicht verlieren will : sich nicht verlieben will : sich nicht ganz aufmachen will : oder daß man Angst hat der andere tut es : daß man nicht zu weit gehen will : daß man nicht zu viel zulassen will, weil man Angst hat den andren zu verletzen, selbst verletzt zu werden : wieder durch die Stadt zu laufen nachts, obwohl man lieber als Flaneur von einer Hand gezogen werden möchte : allein im Bett liegen und gern so rasend liebend über alle Vernunft hinweg den einen Körper spüren möchte neben sich: den einzigen : wieder die Verzweiflung laut hinausschreit, gegen die Wände schleudert, ohne daß ein Echo je zurückgeworfen werden würde : wieder Briefe zerreißt, Telefonnummern löscht, tagelang Nick Cave hört: nur den einen Song wieder und immer wieder : ja, so bin ich also wieder angekommen, bruchgelandet, so ganz verloren an der Bushaltestelle Downtown, wenn der Nebel die Häuserschluchten hochkriecht und schon lang kein Bus mehr fährt : WHERE CAN WE GO BUT NOWHERE

Und diese Welt von Sinnen soll die Bühne sein, der Laufsteg durch den Wechsel der Gezeiten?

Den Staub, der auf den Möbeln lag, weht uns der Wind nun um die Ohren... Die weißgraubraunen Fetzen, die die Stühle einst bedeckten, hat der zerbrochne aufgeplatzte Granatapfel rot eingefärbt und decken den Tisch für unser Abendmahl... Der Hinterhof ist frisch begrünt wie einst ein Mai, und der Altpapiercontainer ist entsorgt und will gefüllt werden mit Wünschen, Träumen und Ideen von einem Ort, an dem man innehalten kann, einen Moment lang anhalten, die Ekstase in eine Windhose zwingen und einen Blick lang Platz schaffen für einen noch unberührten Raum, der uns entjungfert und uns öffnet, der uns wirklich und endgültig frei macht, uns befreit von uns und unsren Projektionen einer von uns selbst erschaff'nen Wirklichkeit:

WEIL HEUTE MORGEN SCHON GESTERN IST vermittelte ein Werbespruch die falsche Vorstellung, man könne sich als Grabstein in den nächsten Tag, ja durch die Ewigkeit hindurch in ein verlor'nes Paradies hinüberretten... Es könnte so einfach sein: Man müßte nur loslassen, die Koffer stehenlassen, die Bilder von sich und von dem, was man zu sein vorgibt, zu sein glaubt, vergilben und verstauben und sich selbst zersetzen lassen... Sie sind der Humus, aus dem Kinder Spielzeug basteln... Und wenn man sich entsorgt hat und in sich hineinruft und hineinhört, ganz durch sich hindurchruft und hindurchhört, klingt die eigne Stimme plötzlich wie die Stimme einer fremd-vertrauten Kreatur, ist weder definierbar, noch hat man den Wunsch, sie einem Geschlecht zuzuordnen, sondern läßt sie Teil sein dessen, was mich ausmacht: Klang Musik Gebet Schrei Stille

Und nötig wird es sein, das Fremde zuzulassen, das ungeahnt und unvermittelt als ein Schicksal uns begegnet, das vermeintlich außer sich und seinen Lebenswelten liegende Brachland zu durchqueren, um mit sich zu kommunizieren : die Hostie nicht zu zerkauen, sondern am Gaumen kleben lassen, bis sie sich in NICHTS zerlöst : sich sprechen lassen von den andern Stimmen, der andern Sprache, sich schauen lassen von den fremden Blicken und einen Klang lang Platz schaffen für Stille... Mit einem Tropfen Morgentau das Paradies als Brückenpfeiler zementieren, als Monument: von nichts umgeben als von nichts : kein ich mehr und auch kein Gedanke : keine Idee : kein Suchen mehr : kein Rasen mehr die Stromschnellen hinunter : umgeben nur von mir...

"Komm runter von dem Trip, mein Junge! Steig runter von dem Obelisken! Häng die Gitarre in den Schrank zu der Kalashnikov!", sagst du, "denn Obelisken werden gern gestürzt. Zu Recht, denn Lust hat keine höhere Bedeutung", sagst du, "ist im Gegenteil bloß Befriedigung eines Grundbedürfnisses..." Und schon verliert der Satz den Rhythmus, verläßt der Reim den Vers, werden die Zahlen gerade. "Lust ist eine rein existentielle Angelegenheit", sagst du, "vergleichbar mit Anflügen, aber nie mit einer Landung..."

WO IST DER SPASS IN DEINEM LEBEN?, fragst du.

Klar steht es dir an, mich zu fragen, wo die Trauer anfängt ... und wo die Trauer zum Selbstmitleid wird : wo das Weinen nicht befreiend, sondern Ausfluß ist eines bereits vorübergegangenen Schmerzes. Und was, wenn dieser Schmerz nun doch ein nicht enden wollender ist, der plötzlich zum Mittelpunkt des Daseins wird, um den alle Gedanken kreisen, und der keinen Sonnenauf- und keinen Sonnenuntergang mehr zuläßt, wo der Tag nicht hell, die Nacht nicht dunkel ist, weil sich im Drehen alles in ein bunt-grau-bleiches Allerlei verwandelt : wie auf einem Karussell, das wir als Kinder liebten : dieses Drehen um die eine Achse, die es uns ermöglichte, den Blick frei zu machen : ein sich um sich selbst drehn : und wie die tanzenden Derwische des Dschellalledin Rumi im Drehen den Mittelpunkt zu finden, indem wir selbst zum Mittelpunkt mutieren : und doch dabei die Welt und uns um uns herum verlieren...

Denn spiegelt man sich nicht am deutlichsten in dem Blick, den man auf Andre wirft? Ist in der Stille nicht das Getöse am lautesten? Kulminieren äußerste Lust und unerträglicher Schmerz nicht in demselben Schrei, der Erlösung und Angst vereint, Wehmut und Glückseligkeit?

Heiner Müller hat geschrieben: "Es gibt heute eine verkommene Haltung zum Tragischen oder eben auch zum Tod. Eine Idealform für mich wäre: Ohne Hoffnung und Verzweiflung leben. Die Menschen fragen immer nach einer Hoffnung. Das ist eine christliche Frage. Für die Griechen wäre es keine Frage gewesen: Man hatte weder Hoffnung noch Verzweiflung. Man lebte. Durch das Christentum ist diese Haltung zum Tragischen als einer Bereicherung des Lebens und des Theaters verlorengegangen. Das Tragische ist etwas sehr Vitales: Ich sehe einen Menschen untergehen, und das gibt mir Kraft. Jetzt ist es die Regel, dass es deprimiert, wenn einer untergeht."

Ohne Hoffnung und Verzweiflung leben... Heißt das nicht, sich der Lust hinzugeben, nicht ihr nachzuhecheln... Beginnt nicht jeder Tag mit einem kleinen Tod und endet lichtdurchdrungen als Samenerguß, in Beischlaf und Verzückung... Und gibt nicht erst die Stille jenseits des Schmerzes, des Verlusts, des Glückszustands - nach dem Orgasmus und dem Todeskampf - uns die Möglichkeit, den Raum mit unserm Klang zu füllen, uns zu berühren und zu begegnen, jedesmal neu und fremd, und sind wir nicht erst dann eins mit uns selber, wenn sich das Bild von dir und dir und dir erst in uns selber malt, und wie von Geisterhand entsteht und sich verwandelt, wandelt, fließt, zerfließt... Ja, stetes Wasser höhlt den Stein, und hieße das nicht, durch das Loch könnte ich dich dann schauen, dir begegnen, seelenlos zwar und farblos, leer, und still, silence is golden, but my eyes still see...

Ist es nicht so, daß wir nur da sind, um der Spur zu folgen, die das Leben zu den Wurzeln unsres Daseins führt. Und sich die Daseinsberechtigung daraus ableitet, daß wir Menschen teilhaben lassen an unserer Spurensuche. Nicht als Fremdenführer, nicht als Lehrer... Und schon gar nicht wir, die wir von Tag zu Tag als Blinde die Augen zur morgendlichen Andachtsprozession der Gestirne öffnen und wie in einer Stierkampfarena dem Alltags-Todestanz beiwohnen... Die wir die Welt Abend für Abend neu erschaffen, indem wir sie auf die Bühne ver-rücken und damit zumindest einen Teil des Horizonts verstellen... Gerade wir können nur darauf verweisen, daß es etwas zu sehen gibt... Hinweisen darauf, daß das, was jeder sieht, einzigartig ist, und es noch einzigartiger machen, indem wir das Leben in ein leeres Glas füllen und ihm einen Augen-Blick ungeteilter Aufmerksamkeit ermöglichen, bevor wir es in Wein verwandeln...

Ich bin nicht verfügbar, heißt das Credo : und ich will es auch nicht sein : und daran scheitern meine Liebesbriefe über das Hinschreiben und den Transport von mir zu dir : aber das macht sie auch einmalig, und mich manchmal traurig, und dich schmerzt es ... vielleicht ... doch meine Sehnsucht liegt nicht im Endgültigen: sie ist endlich wie der Tag: sie reicht bloß bis zum Horizont: nicht über ihn hinaus: vergeht im Blühen einer Herbstzeitlose: dem Wissen um die Möglichkeiten von Veränderung gleich, das die Sandburgen zum Einsturz bringt.

Ja, wo liegt meine Lust am Leben...

Vielleicht würde ich dich jetzt lieber im Arm halten, als dir zu schreiben? Vielleicht auch mit dir ficken bis hinein in eine tiefe atemlose reinigende Ohnmacht? Heißt dir zu schreiben, und Fragen an die Bühnenwände werfen, daß ich aufgehört habe, zu leben? Daß ich mich dem überbordend überschäumenden Lebenstanz verweigere? Oder will ich bloß nicht, daß das Getöse jenseits der Stille mir die Spitzen der Klarheit abschneidet, daß es mich einengt, und daß ich an einem Wegstück angelangt bin, wo mein Leben anfängt, mit mir zu kommunizieren?

Und ich will kein Wort überhören, kein Blatt übersehn, das bunt gefiedert mir der leichte Herbstwind durch mein Blickfeld schweben läßt. Und da ich nicht nach Antworten suche, aber Fragen um Fragen meinen Wegrand säumen, so stelle ich auch diese Frage bloß so in die Welt, und in diese Jahreszeit, die meinem Alter entspricht, wo die Natur sich aufbäumt und die Blätter sich bunt färben und der Himmel klar und hellblau noch ein letztes Mal die Schönheit eines Jahres erstrahlen läßt, und man sich dem Gefühl von Sehnsucht hingibt, als gäbe es keine grauen kalten Wintertage.

Hans Werner Henze hat am 28. September in einem Gespräch im Deutschlandfunk gesagt: "Mit 70 hat man keine Sehnsucht mehr. Man schaut zurück, nicht voraus..." Und das war nicht kokett gemeint oder mit der Überheblichkeit eines Wissenden gesagt. Und es erinnerte mich an ein BBC-Interview, in dem der Reporter den 80-jährigen Jean Genet, von dem zu diesem Zeitpunkt schon seit mehr als 20 Jahren keine Zeile mehr veröffentlicht wurde, fragte, was er denn den ganzen Tag so mache? Nach längerem Überlegen antworte der Dichter mit Bestimmtheit: "Ich warte auf den Tod." Zwei Monate später ist Jean Genet in Paris an Kehlkopfkrebs gestorben.

Was anderes ist möglich, als sich zu stellen, mit der letzten Konsequenz : Jahr für Jahr : der Zeit nicht hinterherzulaufen, die zu rasen beginnt : sich eine Reise gönnen in das Land, das an der Straße liegt, die man befährt, ohne die Landschaft wahrzunehmen, durch die sie führt, ohne Rücksicht auf Verluste – einfach so - und ohne Angst, etwas zu versäumen - einfach die Augen schließen, bis man nichts mehr sieht, hinzuhören, bis man von nichts umgeben ist als von der Stille, die den Weg uns deutet zu uns selbst...

Von Sinnen sein heißt Verrückt-Sein : außer sich geraten : dem Sich im Dasein neu begegnen. Und war nicht auch Iokaste außer sich, als sie zuerst mit Laios schlief, dann als dem Lauf der Dinge Ausgelieferte den Sohn zum Gatten nahm, die Söhne im Kampf gegeneinander und aneinander starben, der nörgelnde und mit seinem Schicksal hadernde Ödipus als Schlafgemach eine Toilette wählte, Antigone sich gegen Bruder, Staat und alle Konventionen stellte,- nur mit dem Anspruch, ein moralisches Recht darauf zu haben, sich selbst treu zu bleiben, sich morgens in den Spiegel schaun zu können...

Und sollten wir dies Leiden Iokastes nicht als Beispiel nehmen, das uns endlos mehr von uns und über uns erzählt als jeglicher Versuch, uns unsern Alltag zu beschreiben... Nur sollten wir anstelle eines Schwerts uns bloß die Fantasie in unsern Körper rammen, das einzige, das uns jetzt rettet und weit über den Tod hinaus : nicht nach "MEHR LICHT! zu schrein, sondern Lucifer beizeiten an den Tisch zu bitten...

Denn: Wohin führt der Weg... Was ist das Ziel all dieser Überlegungen, wenn nicht der Wunsch, nie anzukommen in der Leichtigkeit des Seins... Hoffnung und Verzweiflung gleichsam als Randsteine zu betrachten, als Regulierungs- und Verhaltenshinweisschilder für den alltäglichen Adventure-trip...

Das Ziel kann immer nur sein, es nie zu erreichen: Dieses Betrachten der Geschäftigkeit der Welt ohne die Überheblichkeit des Besserwissenden... Dieses Verständnis von Vergänglichkeit, das sinnliches Erleben erst ermöglicht... Dieses Wissen um die Qualität eines Single-Malt-Whiskeys, um den Gaumen wie der Morgentau das Gras zu netzen... Jemanden zu spüren, ohne ihn zu kennen oder ihm begegnet zu sein... Keine geheimsten Wünsche mehr zu haben... Das Gesagte schon im Klang der Sprache zu verstehn... In den Leerzeichen der Sätze das Nichtgeschriebene zu deuten... "Durch deinen Blick hindurch mich selbst zu sehn..." Traumlos zu schlafen hieße: Vom Auge des Taifuns hinweggeschaut worden zu sein

Ich aber: Will als ein Hühnergott - bei Ebbe von der Flut am Strand zurückgelassen - von einem Kind gefunden und betrachtet, und nicht für würdig befunden wieder ins Wasser geworfen werden, als ein Zeichen ewiger Wiederkehr des immergleichen Anderen, als die Bestätigung dafür, daß der Weg noch nicht zu Ende ist...

Ich möchte jemanden einsingen,
bei jemandem sitzen und sein.
Ich möchte dich wiegen und kleinsingen
und begleiten schlafaus und schlafein.
Ich möchte der Einzige sein im Haus,
der wüßte: die Nacht war kalt.
Und möchte horchen herein und hinaus
in dich, in die Welt, in den Wald.
Die Uhren rufen sich schlagend an,
und man sieht der Zeit auf den Grund.
Und unten geht noch ein fremder Mann
und stört einen fremden Hund.
Dahinter wird Stille. Ich habe groß
die Augen auf dich gelegt;
und sie halten dich sanft und lassen dich los,
wenn ein Ding sich im Dunkel bewegt.

Rainer Maria Rilke – Zum Einschlafen zu sagen
Aus: Das Buch der Bilder


geschrieben für die Oberösterreichischen Kultur Vermerke 2003
als Beitrag zum Symposion KEINE IDEEN MEHR


© Ernst M. Binder