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Ernst M. Binder

SCHRITTE IM SCHNEE
Notizen zu Handkes "Versuch über den geglückten Tag"


Darum lobe ich das Theater. Die Phantasie erlöst uns,
und der Traum ist unser Befreier.
Robert Walser

Peter Handke traf ich zum ersten Mal 1973 des nachts im Büro des damaligen Leiters der Literaturabteilung des Studio Steiermark. Alfred Holzinger, sein Mentor in frühen Studienjahren, machte uns miteinander bekannt. Es war eine Nacht mit viel Wein und einigen Schachteln AUSTRIA 3 (den sogenannten "Dreiern"), die es damals noch gab, als noch Aufbruchstimmung im Kulturbewußtsein der österreichischen Öffentlichkeit herrschte. Als noch nicht promovierte Kulturmacher die "Kohle" abzogen, sondern Kunstmacher (Künstler) herauszufinden versuchten, was Kunst sei und welche Aufgabe ihr zukäme. Als die Politik und ihre (Manager-) Handlanger noch nicht auf der Suche waren nach "Events", sondern nach dem Unerklärlichen, Unausgesprochenen, Undefinierbaren; nicht nach Sensationen gierten, sondern der Sensibilität des zwischenmenschlichen Daseins nachspürten... Als Kultur noch nicht Tourismus hieß und für Fußballstadien noch keine ORF-Kulturschillinge verjuxt wurden.

Weltoffen sein hieß damals noch nicht Globalisierung, der Schilling nicht Euro, und nach Afghanistan fuhr man, um Haschisch zu rauchen. Die "Publikumsbeschimpfung" wurde zum Skandal, wohl weil niemand den Text las, der – wie alle Handke-Texte – ein Fest der Philosophie zelebrierte im Gegensatz zu dem Gesellschaftsseiten-Einschaltquoten-Mief-Kotz-Schlamm-Niveau, in dem Journaille, Politik und Adabeis sich heute ungeniert und dummdreist wälzen. Fremdenfeindlichkeit war noch die Hoffnung auf ein "Miteinander", grün die Farbe des Grases, blau die Farbe des Himmels.

Es gab damals noch ein Bildungsbürgertum, das sich nach Wolfi-Bauer-Aufführungen mit langhaarigen Studenten stritt. Verklärt gesagt: besuchte man/sie eine Theateraufführung, um sie türenschlagend wieder zu verlassen; studierte man/sie, um sich mit den gesellschaftlichen Zuständen und Bedingungen auseinanderzusetzen. Die Studienrichtung wurde nicht vom Notendurchschnitt vorgegeben und der Theater-Spielplan nicht nach Auslastungszahlen gestaltet. Theater war kritische Auseinandersetzung und kein Fitness-Center für geistige Selbstbefriedigungsexerzitien wie Theatersport. Heute darf man sich wieder stolz zur Provinzialität des Geistes bekennen. Man hat die Mehrheit hinter sich: Graz + 3 Nullen = Musikantenstadel + WETTEN DASS? + Hauptstadt der Provinz in einem... Der Schloßberg explodiert auf dem Plakat und nicht im Kopf... Wien wird via Werbeagentur zum schönsten Vorort von Graz affichiert... Es darf applaudiert und gelacht und händegeschüttelt werden...

Inhalte sind OUT: IN die leeren Fenster stellt man je nach Bedarf einen Uhrturmschatten, eine Murinsel oder ein bonbonfarbenes Lichtschwert... Die Verpackung ist der freie Geist der Zeit, die Auslagendekoration die Corporate Identity, das Erzherzog Johann ausgebucht: Kunst subventioniert das Gastgewerbe und Janis Joplin singt sich vor gröhlendem Publikum im ausverkauften Schauspielhaus um Stimme und Leben...

Was also will man mehr? "Notwendig ist eine Kulturpolitik, die sich ... offensiv positioniert", schreibt folgerichtig der Burgtheaterdramaturg Joachim Lux: "Wenn es daran mangelt, bleibt es beim Status quo, wo neoliberale Söhne den tradierten Kulturauftrag der 'Väter' (zum Beispiel des Grundgesetzes) immer mehr unterminieren. Denn Kultur ist nicht nur ein 'Freizeitfaktor' für den 'Wirtschaftsstandort', auch nicht nur ein – potenziell allerdings erheblicher – 'Bildungsfaktor' für Pisa-Geschädigte, sondern der Humus, auf dem kulturelle Identität erst entstehen kann; ein Therapeutikum gegen allerlei Verwerfungen: Luft zum Atmen."

Die Spur führt von Pythagoras zu Bill Gates, von Horaz zu Havemann. Dem Theater kommt die Aufgabe zu, dieser Spur zu folgen. "Wenn du traurig bist, benütze es", predigt der alte Georgieboy Tabori seit 30 Jahren. Wir benützen Psychopharmaka. Weil wir den Abgrund in uns selbst nicht sehen wollen, schaun wir in den Spiegel. Weil wir verlernt haben, zuzuhören, bezahlen wir jemanden, der uns zuhört. Im Gegensatz zu unserm straighten Lauf von Marathon nach Athen sollten wir den Mut haben, den Balkan zu durchqueren. Wir sollten das Minenfeld betreten und die Augen schauen und die Ohren hören lassen und uns in die Luft sprengen vor Überschwang, und voller Trauer in die Hose scheissen beim Erblicken des Schilds: MIENENFREIE ZONE. Der Spur zu folgen heißt: Nicht nach Antworten, sondern nach Fragen suchen. Die Spur führt immer von HIER (ICH) nach DORT (ICH): ICH UND KEIN ENDE!

Im Theater muß man das Geld beim Fenster hinausschmeissen, ohne den Hintergedanken, es möge bei der Tür wieder hereinkommen. Eine Gemeinschaft MUSS sich Theater leisten, um nicht zur Gesellschaft zu verkommen. Denn Theater kann die Spannung zwischen dem Lärm der Straße und der Stille des Über-etwas-Nachdenkens wahrnehmbar und nachvollziehbar machen. Theater soll den Seiltanz des aus Kalkül Schweigenden mit dem in sich HineinHörenden wagen. Theater muß den schmalen Grat vom lustvoll taumelnden Grenzgänger zu jenem, der bereits am Strick hängt zitternd überschreiten. "We got the sky to talk about / And the world to lie upon." Ja, lieber alter Townes Van Zandt, deine Krücke war nie der Stock, auf den du dich stützen mußtest am Ende deines Wegs, deine Krücke war immer das Verlorensein in dieser Wüste aus Sand und Eis: "Come mornin' / I'll be through them hills and gone."

"Das Leben ist nicht nur ein Tanz", heißt eine jener sinnentleerten Volksweisheiten in der Gegend, in der ich geboren wurde. Und doch ist etwas Wahres dran: Das Leben ist nicht nur ein Tanz, das Leben ist vor allem und zu-aller-erst ein Spiel. Ein ständiges Suchen, Finden, Verlieren,- ein Spiel mit dem Leben ist das Leben. Ich meine nicht den betrunkenen Autofahrer, nicht den Kameramann im Kugelhagel von Kabul, ich meine damit nicht: Sein Leben aufs Spiel setzen! Ich spreche von der Kommunikation mit mir und dir und uns; von den Gebärden, die das Wort erübrigen; von den Worten, die nicht gesprochen werden müssen, weil ein Blick genügt. Ein Blick aus grünen Augen läßt rote Haare strahlen wie ein Sonnenuntergang das Taj Mahal. Auf einem kleinen Wegstück über das übliche hinaus wird beim Blick zurück der Ausruf kommen "Das habe ich noch nie gesehen!" Was für Sätze! Auch wenn sie nicht gesprochen, sondern nur gedacht und gewünscht wurden ("Laß spüren den Tanz des geglückten Tags. Sing mir das Lied vom geglückten Tag!"). Der spielerische Umgang mit dem Denken und dadurch mit dem Sein bestimmt den Tag. Das spielerische Ausprobieren ist zur Umgangssprache geworden. Indem wir Probieren, sprechen wir. Indem wir Wahrhaben, hören wir. Nicht zuletzt das Internet hat uns die Sprache wiedergegeben, aber uns nun endgültig das Lesen entrissen. Wir sollten der Welt mitteilen, daß es etwas zu Hören gibt. Hinhören. Hineinhören. Hindurchhören. Hörblicke: 12 Buchstaben und zwei Leertasten: Ich liebe Dich: Das Wort ist Schnee geworden.

Wir diskutierten damals – 30 Jahre ist es her - über den Schnee. Fast eine Nacht lang über die unterschiedlichen Bedeutungen des Wortes SCHNEE. Die Straße wieder nicht vom Schnee geräumt! Färbt nicht die Entjungferung den Schnee rot? Noch nie ein Herz in den Schnee gepißt? Der Schnee, er fällt, daß einem warm wird ums Herz. Die letzten Schritte Robert Walsers im Schnee. "Schau Mutter, ein Schneemann!" "Schau weg, mein Kind." Doch schau hin, Kind unserer Zeit! "Und wo ist der Mantel jetzt?", heißt es bei Handke, "Verlaß den Traum. Schau wie der Schnee vorbeifällt an dem leeren Vogelnest. Auf zur Verwandlung."

Denn es ist kalt geworden auf der Welt und in Österreich. Aber nicht, weil Schnee gefallen ist über Nacht und Traum.

geschrieben mai/juni 03 während der Probenarbeit an
Peter Handkes VERSUCH ÜBER DEN GEGLÜCKTEN TAG


© Ernst M. Binder