dramagraz
co-produziert mit:

forum stadtpark theater / dramagraz, schauspielfrankfurt, Frankfurt / Main, Museum der Wahrnehmung, Graz (KÖRPER UND FRAU)Literaturhaus Graz / Graz 2003 (DAS SCHWEIGEN)

 
 
Elfriede Jelinek
:WER WILL ALLEIN SEIN:

>eine untersuchung (UA)
 


>eins: KÖRPER UND FRAU >eine entäußerung
>mit Juliane Werner
>Montage: Ernst M. Binder

>zwei: DAS SCHWEIGEN >einer dieser vergeblichen versuche
>mit Bettina Buchholz
>Stimme: Elfriede Jelinek
>EDV-Musik / Bruitage: Josef Klammer

>drei: ALLEINSEIN >ein tatsachenbericht
>mit Juliane Werner und Bettina Buchholz
>Gebärdensprache: Gertrude Dirnberger

>Konzept / Inszenierung: Ernst M. Binder
>Bühne: Carlos Schiffmann
>Kostüme: Andrea Plabutsch / Lisa D
>Dramaturgie: Alexandra Rollett
>Licht / Technische Leitung: Geari Schreilechner
>KlangInstallation: Josef Klammer
>Produktionsleitung: Andrea Speetgens

Uraufführung der Trilogie: 18. November 03, 20.00 Uhr
O.K Centrum für Gegenwartskunst, Dametzstr. 30, 4020 Linz

 

Zur Autorin: Elfiede Jelinek

elfriede jelinek
Es gibt nur wenige Autoren, die so heftig gehasst und wenige, die so euphorisch bejubelt werden wie Elfriede Jelinek. Sie hat sieben Romane und 13 Theaterstücke geschrieben, daneben etliche Hörspiele, Libretti, Drehbücher, Essays sowie Übersetzungen verfasst und egal, welches Ausgangsthema den Texten zu Grunde liegt: Sie lösen etwas aus, eine öffentliche Reaktion. Sie sind polemisch, sarkastisch, frivol oder irritierend und sperrig, auch zutiefst persönlich und voller Trauer, aber in jedem Fall eins: unbarmherzig wahr. Sie haben stets etwas Aufklärerisches, das auf das Ganze geht, statt auf das einzelne Private.

Elfriede Jelinek stand immer abseits von Strömungen und Trends. Aufrührerisch und teils blasphemisch stellte sie genau jene Positionen in Frage, auf denen man sich gerade bequem niedergelassen hatte: Zu Zeiten, als der Feminismus auch bei Männern Mode wurde, führte sie mit „Die Liebhaberinnen“, „Clara S.“ und „Krankheit oder Moderne Frauen“ den Frauen ihre selbstverschuldete Unmündigkeit vor. Als die neue Innerlichkeit aufkam und alle wieder sensibel wurden, schrieb sie ihren mit Selbsterniedrigung und Selbstekel gespickten Roman „Die Klavierspielerin“. Und schließlich hat sie sich in „Ein Sportstück“ und „In den Alpen“ sogar noch am allerheiligsten Kult der Gegenwart vergriffen: dem Sport.

Als Produzentin derart widersetzlicher Werke wurde sie zu einem willkommenen Angriffsziel rechtsorientierter Kreise und der Boulevardpresse, die seit dem Tod Thomas Bernhards ja niemand mehr hatten, den sie als „Nestbeschmutzer“ beschimpfen konnten. Doch wie Elfriede Gerstl, Schriftstellerkollegin und enge Freundin Jelineks, meint: Wer vor Jelineks Texten erschrickt, erschrickt vor sich selbst, vor seinen Rachefantasien, seiner Wut auf die Beschränktheit der Mitmenschen, auf die einengende Mutter, den übermächtigen Vater etc.

Was an der Autorin aufregt, sind vielleicht weniger ihre provokanten Themen als vielmehr die Auflösung der Persönlichkeit, die Jelinek betreibt. Das Ich löst sich auf in medialem Sprechen: Wenn eine Person ihr Innenleben formuliert, so tut sie es mit Versatzstücken aus Presse, Fernsehen, Werbung, politischen Ideologien und Geistesgeschichte. Das von vorgetäuschter Gemütlichkeit vollgepropfte Gesülze der Heimatfilme, die von Gehässigkeit dampfende Rede der Politiker, die von reaktionärer Verstocktheit geprägte Alltagssprache wird ebenso satirisch verdichtet und dem Verlachen preisgegeben wie das von Floskeln überbordende Geschwafel der künstlerischen Elite. „Sieh deiner Selbstentfremdung ins Gesicht“, fordert die Autorin und zeigt uns mit beißendem Humor und einer gehörigen Portion Sarkasmus unsere Befangenheit in Vorurteilen und Klischees.

Auszeichnungen (Auswahl):
Staatsstipendium für Literatur, Österreich (1972), Drehbuchpreis der BRD (1974), Heinrich-Böll-Preis (1986), Literaturpreis des Landes Steiermark (1987), Würdigungspreis der Stadt Wien (1989), Peter-Weiss-Preis (1994), Bremer Literaturpreis (1996), Georg-Büchner-Preis (1998), Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf (2002), Theaterpreis Berlin (2002), Dramatikerpreis der Stadt Mülheim (2002), Else-Lasker-Schüler-Preis (2003), Lessing-Preis für Kritik (2004).

Werke (Auswahl):
Lyrik: Lisas Schatten (1967), Ende (2000). Romane: Wir sind Lockvögel Baby! (1970), Die Liebhaberinnen (1975), Die Ausgesperrten (1980), Die Klavierspielerin (1983), Lust (1989), Die Kinder der Toten (1995), Gier (2000). Theaterstücke: Clara S. (1981), Wolken.Heim. (1988), Raststätte (1994), Stecken, Stab und Stangl (1996), Ein Sportstück (1998), Macht nichts - Eine kleine Trilogie des Todes (2000), In den Alpen (2002).

 
Zum Stück: Wer will allein sein

Viel stärker als mit allen unerwünschten Themen und Entheiligungen verletzt
Elfriede Jelinek den Narzissmus mit der Auflösung des Persönlichen. Sie hat das
Subjekt als Person, Persönlichkeit, Individuum weggenommen. Sie hat es im
entfremdeten Sprechen, in Konsumentensprachen, Sprechweisen untergehen
lassen. Das heißt, eigentlich hat nicht sie das getan, sondern die Geschichte.
Sie fiktionalisiert einen realen Zustand.
Stefanie Carp

Seit jeher war die Selbstwahrnehmung der Frau eines der Hauptthemen in Jelineks Stücken: als Arbeiterin, als Denkerin, als moderne Ehefrau, als Sexobjekt, als Gebärmaschine. In :WER WILL ALLEIN SEIN:, einer Trilogie aus den Texten „Körper und Frau“, „Das Schweigen“ und „Alleinsein“, erzählen die auftretenden Frauengestalten über ihre Probleme mit dem Weiblichkeitsbild der heutigen Gesellschaft, über ihr Scheitern am Mitmenschen, an der Gesellschaft, an der Geschichte, an der Kunst und vor allem an sich selbst.

Der Monolog KÖRPER UND FRAU ist die Geschichte des Verschwindens eines Unterwäschemodels namens Claudia hinter Schminke, Mode und cellulitefreien Oberschenkeln. Davor steht jedoch eine Zwiesprache der Frau mit ihrem Körper: Das Lustobjekt, die Projektionsfläche überzogener Schönheitsideale trifft auf die anderen Aspekte von Claudia: auf die blasierte Göttin, die biedere Hausfrau, den männermordenden Vamp, die enttäuschte Tochter. In der für Jelinek so typischen bildgewaltigen, obsessiven Sprache wird die konventionelle Auffassung jeglicher Identität dekonstruiert und die Schwierigkeit weiblicher Selbstdefinition auf den Punkt gebracht.

Im zweiten Teil des Abends - DAS SCHWEIGEN - nimmt sie das dem Schriftstellerdasein immanente Streben nach dem Höchsten, dem Ewigen, dem Allumfassenden aufs Korn, in dem sie den Versuch, eine Biografie des Komponisten Robert Schuhmann zu verfassen, um-, auf- und be-schreibt. Mit Sprachwitz und Selbstironie erzählt sie vom Scheitern des Dichters – einem Scheitern, das nur ins Schweigen münden kann.


Die Inszenierung stellt diesem Monolog eine kontrapunktierende Komposition von Josef Klammer gegenüber. Die Sprachmusik basiert auf dem von der Autorin selbst gelesenen autobiografischen Text „Die Zeit flieht“. Sequenzen aus Silben, Konsonanten und Vokalen ergeben ein Klanggebilde, das das Schweigen zum Klingen bringt.

Den Abschluss des Abends bildet der hochaktuelle Text ALLEINSEIN, in dem Jelinek das Frausein im gesellschaftspolitischen Kontext thematisiert. Sie zeigt „die politische Aufschaukelung von Terror und Pazifizierung“ als „eine Art Aufladung der Gegenwart mit Männlichkeit, die die Weiblichkeit verdrängt“. Gemeinschaft - egal ob im kleinen Kreis der Familie oder in den unüberschaubaren Netzwerken der globalisierten Welt - kann nicht existieren, wenn die größere Hälfte der Menschheit, nachdem man sie verschleiert bzw. in Dirndlkleider gezwängt und zum Putztrampel degradiert hat, nur mehr die Rolle des Sündenbockes spielen darf.

 
Ernst M. Binder
ernst binder
freier Autor, Regisseur und Musiker; seit 1987 Leiter des forum stadtpark theater / dramagraz. 60 Inszenierungen im In- und Ausland, davon 39 Ur- und Erstaufführungen; 3 Einladungen zum Mülheimer Theatertreffen, 3 Nominierungen zum Berliner Theatertreffen, 2 Einladungen zum Heidelberger Stückemarkt sowie weitere Teilnahmen an renommierten Theaterfestivals. Wichtigste Inszenierungen u. a.: Die Osiris Legende von Peter Glaser (steirischer herbst 1988), Mein Hundemund von Werner Schwab (Schauspielhaus Wien 1992), Totentrompeten von Einar Schleef (Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin 1995), Aus nichts wird nichts von Bertold Brecht (Berliner Ensemble 1997), Es singen die Steine von Gert Jonke (Stadttheater Klagenfurt 1998), Woyzeck (Slowenisches Nationaltheater DRAMA Ljubljana 2002), Black Jack von Franzobel (Festwochen Gmunden 2003).
 
Josef Klammer
josef klammer
Komponist und Schlagzeuger; Mitglied des Klammer&Gründler Duos; Mitbegründer von V:NM (Verein zur Förderung und Verbreitung Neuer Musik) und Organisator des gleichnamigen Festivals; seit 1988 Theatermusik in Zusammenarbeit mit Regisseuren wie Martin Kusej, Ernst M. Binder, Zdravko Haderlab u. a.; Konzeption und Sound- und Musicprogramming für Klangprojekte; Komposition und Gestaltung etlicher Sendungen für ORF/Ö1/Kunstradio; Auftragskompositionen für das musikprotokoll (steirischer herbst), die Stadt Graz, das Diagonale-Filmfestival, das Institut für Elektronische Musik und Akustik der Musikuniversität Graz usw.
 
Juliane Werner

juliane werner
Schauspielstudium am Mozarteum Salzburg; Engagements im Ensemble des Residenztheaters München und Schauspielhaus Graz; Zusammenarbeit u. a. mit Andreas Kriegenburg, Thomas Bischoff, Wolfram Apprich, Klaus Emmerich. Lebt seit 1999 als freie Schauspielerin in Berlin. Produktionen der Volksbühne Berlin (Wer tötete Bruce Lee); Landestheaters Linz (Der reizende Reigen), des ensembles für städtebewohner (Narrenturm), des steirischen herbst (Der Tod und das Mädchen I-III) und des Wiener Burgtheaters (Das Werk) sowie weitere Off-Projekte in Deutschland, der Schweiz und Österreich. Zahlreiche Rollen in Film und Fernsehen.

© Wolf/dramagraz

 
Bettina Buchholz


bettina buchholz
Schauspielstudium an der Hochschule f. Musik und Theater „Felix Mendelson-Bartholdy“, Leipzig; ersteEngagements an den Schauspielhäusern in Konstanz und Dresden; Ensemblemitglied in Heidelberg, Gießen und Freiburg. Zur Zeit am Landestheater Linz tätig, wo sie mit Regisseuren wie Gerhard Willert, Sabine Mitteregger, Ingo Kerkhof, Christian Wittmann, Bernada Horres usw. arbeitete. Darstellung etlicher weiblicher Hauptpartien in Theaterklassikern z. B Lady Macbeth, Penthesilea, Alkmene in „Amphytrion“, Nina in „Die Möwe“, Eve in „Der Zerbrochene Krug“, Blanche in „Endstation Sehnsucht“ usw. Ihr Interesse gilt verstärkt der zeitgenössischen Dramatik. So spielte sie in Schwabs „Der reizende Reigen nach dem Reigen des reizenden Herrn Schnitzler“ und Kanes „4.48 Psychose“.

© Binder/dramagraz

 
Pressereaktionen JELINEK : TRILOGIE
trilogie I
KÖRPER UND FRAU
 
Frankfurter Neue Presse 10.01.2003

Eine Frauen-Stimme entstieg der Kloschüssel

Ernst M. Binder brachte Elfriede Jelineks "Körper und Frau" nach seiner Grazer Ur- zur deutschen Erstaufführung im Schauspiel Frankfurt.

Nach Marx ereignet sich Historisches gern zwiefach: erst als Tragödie, in der Wiederkehr als Farce. Ob Gleiches für die politische Theorie gilt? Was der für Jelineks Dramen zentrale dekonstruktive Feminismus über den weiblichen Körper als Projektion männlicher Weiblichkeitsideale vorbringt, erinnert unter Lagen aus Jargon sonderbar an die zwei Körper des Königs im Feudalismus: den sterblich-physischen und den rechtlich-politischen, dem der Tod so wenig anhaben kann wie das Alter dem Cover-Model. Getreu dem Untertitel ihres von Binder um mehr Jelinek-Fragmente ergänzten Stücks thematisiert die Dramatikerin ein analoges Auseinandertreten von "Körper und Frau" auf Kosten des Ichs: der Spiegel-Körper der Schönheits-Königinnen im Zeichen der Ohn-Macht. Was nicht zwingend nach Bühnenwirksamkeit klingt. Umso mehr war das Theater im "Glashaus" gefordert, dem Igel des szenischen "Schotters" im Wettlauf mit dem Hasen des von A bis Z bewussten Feminismus der Autorin, der immer schon da ist, zum Sieg zu verhelfen. Binder und seiner gut aufgelegten, gut instruierten Darstellerin Julia Werner gelang es binnen 50 Minuten durch eine kräftig-asketische Regie, gepaart mit konzentrierter Diktion und sparsamer Gebärde, die dosierte Steigerungen zuließ. Abgesehen vom "Dialog" mit der Stimm-Konserve aus dem Off, die später einer Kloschüssel entstieg, kamen wenige Hilfsmittel zur Anwendung. Das Bühnenbild (Carlos Schiffmann) aus Podien und besagter Sitzgelegenheit glich unter Lichtröhrenkranz und Gewandfalten einem Thron, bis "Claudia" ihre Prinzessinnenpose und Höhere-Tochter-Maske aufgab. Das purpurn hochgeknöpfte Gewand riss sie auf, die Sanitärkeramik wurde sichtbar. Das zweite waren die Kostüme (Andrea Platbusch), denn was begleitet von regerer Körpersprache zum Vorschein kam, war ein violettrosa Klofrauenkittel mit barbiefarbenen Latschen; der strenge Scheitel wich vulgär bezopfter Asymmetrie. Der Rest war Text: Bekenntnis der "Glühendschönen" in die Kanalisation, Stenogramm des Ich-Zerfalls in die "membra disiecta" (zerstreute Glieder) der modernen Venus; Nase, Schmollmund, D-Körbchen.
Wenn Claudia Schiffer, Modell für Jelineks Sprecherin, ihre Make-Up-"Rüstung" ein Mittel gegen ihr unwirkliches Foto-Ich nennt, sprengen Binder und Werner diese Rüstung wieder auf.

Marcus Hladek

 
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.01.2003

Claudia, bleib!

Elfriede Jelineks "Körper und Frau" in Frankfurt

Die Dame in Rot sitzt auf einem Sockel, mit strenger Miene und akurat gezurrtem Scheitel, völlig unbeeindruckt von allen, die sie anstarren. Über ihrem Kopf hängt ein Lichtgeviert aus Neonröhren, hinter ihr geben die großen Glaswände im Frankfurter Schauspielhaus den Blick auf die nächtliche Stadt frei. Wenig später wird die Schauspielerin Juliane Werner mit zerhackter Stimme von betonierten Flüssen und Blutströmen, von Mode und Mutterhaß, von Körpern, Sport und Krieg sprechen und dabei munter alles in eins mischen, sie wird langgezogen kreischen, heiter lächeln, zum Beifall für Kriegsverbrecher auffordern und sich einen blondgelockten Zopf ins Haar stecken - daß ihr Spiel nie in den Verdacht des folgenlosen Radaus, des bloß Beliebigen gerät, verdankt sich dieser anfänglichen konzentrierten Stille, deren Erinnerung als Gegenpol den gesamten einstündigen Theaterabend beherrscht. Elfriede Jelineks Stück "Körper und Frau" wurde mit Juliane Werner im vergangenen September in Graz uraufgeführt. Jetzt ist es mit derselben Schauspielerin als deutsche Erstaufführung in Frankfurt zu sehen. Der Monolog, der sich immer dann zum Dialog der Schauspielerin mit einer Tonbandstimme weitet, wenn eine Frau namens Claudia Zwiesprache mit ihrem Körper hält, läßt Rollenbilder einer Frau entstehen, die sich zwischen Göttin und Model, vaterliebender Tochter und gefügiger Hausfrau bewegen.Der Text durchläuft das gesamte Sinnspektrum zwischen kryptisch und banal ("Sprechen ist, wenn die Stille endlich still ist"), integriert Fragmente aus Jelineks "Der Wanderer", "Todtnauberg", "Sportstück" und "Mode", und wie in diesem erkennbar von Assoziationslust beflügelten Wortsalat alles irgendwie zu allem paßt, erweist sich die Klammer, die das Ganze zusammenhalten soll, manchmal als deutlich überdehnt. Es geht um die Distanzierung vom eigenen Körper, um Verkäuflichkeit und Vereinnahmung, um das Bewußtsein, mit dem eigenen Leib über eine Ware zu verfügen, die den ohnmächtigen Neid der anderen erregt: "Claudia. Bleib Körper, Claudia, bleib", murmelt die Tonbandstimme dazu, und Claudia, mittlerweile in eine rosa Schürze gekleidet, fragt verstört: "Wo ist denn bloß mein Schlüssel zu mir? Egal!" Daß dabei insgesamt dennoch ein gelungener Theaterabend herauskommt, ist Juliane Werner geschuldet. Wie sie diesen disparaten Monolog trägt, wie sie die unterschiedlichsten Rollen spielt und gleichzeitig den Abend über bündelt, wie sie Körper und Stimme in einer selbstverständlichen Präzision einsetzt, die alle vorausgegangene Arbeit unsichtbar macht, weist sie als wunderbar stimmige Besetzung in einem schwer zu spielenden Stück aus.

Tilman Spreckelsen


DER STANDARD, 20. 09. 2002

Augsburger Puppenspielerin

Die gelungene Elfriede-Jelinek-Montage "Körper und Frau" im Grazer "Museum der Wahrnehmung" legt nahe: Vielleicht ist eine Jelinek-Rezeption erst jenseits der Staatstheater denkbar.

Graz - Von gänzlich unvermuteter Seite, sozusagen aus der Tiefe der Zeit herauf, stiehlt sich ein vergessen geglaubter Bundesgenosse an die Seite der Elfriede Jelinek: ein konfuzianischer, ganz aus der Mode geratener Weiser, der die Schauspieler so lange aus den Umrissen ihrer Figuren verscheuchte, bis sie zu ihren Dressurkörpern, diesen Zauberinstrumenten der Illusionstechnik, gebührlichen Abstand hielten.

Einfühlung und tätiger Nachvollzug waren diesem listigen Reformer ein Gräuel; seinen exilgebastelten Taschenbuch-Marxismus sieht man ihm heute noch an. Darum will ihn - außer Sektierern - auch keiner mehr beim Augsburger Namen kennen.
Unser weiser Mann, von dem Frau Jelinek in ihren sparsamen Anmerkungen stets hochachtungsvoll gesprochen hat, hieß natürlich Brecht. Und man muss schon an die Mur-Ufer nach Graz fahren, um in den Ausläufern des Augartens ein merkwürdig vieleckiges Industrie-Salettl zu besteigen, eine Art Chinesenpagode des Industriezeitalters mit Namen "Museum der Wahrnehmung". Darin hat man ein Jelinek-Literaturprodukt zusammengebastelt: Körper und Frau, eine "Entäußerung".

In dem schmucken Gartenbau sitzt eine in roten Samt gehüllte, zugeknöpfte Frauensperson (Juliane Werner) als wasserbleiche Figurine auf einem Denkmalsockel: das Strohhaar streng gescheitelt, die Hände flach auf den Schenkeln: ein spätjüngferliches Echo auf die vielen unaufgeklärten Bürgermädchen, die ihren adeligen Verführern aus Gründen der Herzensbildung eigensinnig lustzickig widerstanden, als Limonaden-Luise oder Dolchstoß-Emilia zum Damenopfer freigegeben.
Die wächserne Dame aber, über deren Haupt ein Neongeviert wie ein schmerzlicher Kranz erblüht, zerkaut Jelinek-Sätze: diese bestrickende Sinnmusik, in welcher die verwendeten Begriffe sich an die Stelle des Kopfes setzen, der sich ihrer eigensinnig zu bedienen meint.

Die Begriffe "Frau" und "Fluss" und "Körper" schwimmen sich frei und beginnen miteinander Unzucht zu treiben: erwärmen sich, erhitzen, explodieren. Sie treten über die Ufer des Sinns und reißen alle Bedeutungshöfe mit sich mit in ihrer gurgelnden Flut. Langsam platzt Juliane Werner heraus aus dem Korsett von Sitte und Überlieferung, knöpft sich frei und schießt gleich los - und treibt die Elfriede-Jelinek-Collage Körper und Frau, eine Montage aus Prosateilen und Stückflächen, in ein wunderbar heißkaltes, jederzeit kunstkalkuliertes Delirium hinein.

Postdramatisches Theater, wenn man so will; eher aber ein Korrelat zu Deleuze/Guattaris "kleiner" Literatur, die hinter den Litfass-Säulen der Staatsdichterei wie ein Spuk verschwindet.
Denn vielleicht ist das Theater der Jelinek wirklich in keinen bürgerlichen Plüschcontainer zu packen. Regisseur Ernst M. Binder, der sich das Aufführungsrecht mit dem Frankfurter Schauspiel teilt, übt sich in tätiger Armut: Schneidet aus den Textflächen nacheinander die Elektra-Figur, das Jelinek-Double, die Modepuppe, die Blauensteiner-Witwe heraus: allesamt Opfer im sprachkalten Täterinnenwahn.

Niemals, auch nicht im sexy Nachthemd, stellt Werner das "Objekt" aus, sondern, mit durchdringend strahlenden Augen, im Echoduell mit einer delphisch raunenden Klosettmuschel, die leere Fläche weiblicher Identität. Barbie will Vormund sein: In diesem kleinen Abend könnte ein Ansatz zu einer neuen Jelinek-Rezeption im Theater liegen.

Ronald Pohl

 
Die Presse, 23.09.2002

Jelinek in Graz: Venus auf der Klomuschel

Ernst M. Binder inszeniert als erster wieder einen Jelinek-Text in Österreich: "Körper und Frau" ist eine "Entäußerung", die in Graz Äußerstes abverlangt.

Elfriede Jelinek hat ihren über zwei Jahre andauernden Boykott österreichischer Bühnen beendet. Der Protest gegen die Regierungsbeteiligung der FPÖ habe seinen Sinn verloren, erklärte die Autorin vor Monaten, da "diese Regierung bald ein Furz im Wind sein wird". Regisseur Ernst M. Binder hat schon vor den aktuellen politischen Turbulenzen das Einverständnis der eigenwilligen Dramatikerin zur Inszenierung von "Körper und Frau" in Graz erhalten.

Er siedelt in dieser Koproduktion des Forum Stadtpark Theaters mit dem Frankfurter Schauspiel den knappen, mit Auszügen aus "Der Wanderer", "Totenauberg", dem "Sportstück" und einem Essay der Wiener Mode-Liebhaberin gestreckten Text mit originellem Überraschungseffekt dann auch nicht weit vom Flatus entfernt an. Denn die Venus aus der Muschel entpuppt sich in der "Entäußerung" bald als Claudia auf der Klomuschel.

Dabei gerät der Gag zur passenden Metapher für den sperrigen Monolog eines Models in der Identitätskrise, wenn die aparte Juliane Werner ihren Thron und die rote Samtrobe lüftet (an den Kostümen wirkte die Modekünstlerin Lisa D. mit) und im schlapfigen Hausfrauenkittel am WC über sich und die Welt draußen philosophiert.

Das Sinnieren über Weiblichkeit und Wirklichkeit grast die Ufer von Unterdrückung, Verletzung, Objekt der Begierde und Verweigerung ab. Seichtes und Kopflastiges stehen Satz bei Satz. Assoziationen zur toten Natur und deren krampfhafter Renaturierung, Erinnerungen an den geistesgestörten Vater und die verhaßte Mutter, die "ein rotes Tuch in meiner Hand" ist, sowie das vom Körper zum Kopf wandernde Suchen nach dem Ich vermittelt Werner beeindruckend konzentriert und sensibel.

"Oberflächentheater" wurde Jelineks Credo von der Nichtdarstellbarkeit des Lebens auf der Bühne genannt. Eine recht lebendige Rezeption gelingt Juliane Werner, die den Zuschauern freilich Äußerstes abverlangt.

Elisabeth Willgruber-Spitz

 
KLEINE ZEITUNG, 19.09.2002

Jelinek-Monolog "Körper und Frau" im MUWA

Am stillen Örtchen ist gut philosophieren über "Körper und Frau" und die Welt an sich. Ernst M. Binder hat Elfriede Jelinek für Graz bewegt.

Sie hat Österreich wegen der FPÖ-Regierungsbeteiligung boykottiert. Er will im Moment mit seiner angestammten Heimstätte, dem Forum im grünen Herzen von Graz, nichts zu tun haben. Zwei Protestler unterschiedlichster Natur haben sich zusammengefunden. Elfriede Jelinek hob mittlerweile ihren Bann auf und bewilligte Regisseur Ernst M. Binder erstmals wieder die Inszenierung ihrer Texte in der Alpenrepublik.

Gedankenspiralen. Um die Gedankenwelt des Models Claudia schifft der Monolog "Körper und Frau", mit dem das Grazer "forum stadtpark theater" ins Museum der Wahrnehmung im Augarten siedelte. Hell beleuchtet sind die stillen Örtchen im Foyer, wo Juliane Werner königlich erhaben vor dem Publikum thront und mit ihren konzentrierten Gedankenspiralen wartet, bis das letzte Klosett-rauschen verklingt.

Optimale Körpermaße. Kein Theater im herkömmlichen Sinn ist angesagt. Angespanntes Mitdenken erfordern Jelineks weibliche Abgrenzungsversuche, die Binder mit Auszügen aus "Der Wanderer", "Totenauberg", "Sportstück" und einem Essay der Autorin zum Thema Mode montiert. Aufkeimender Witz offeriert sich Kennern der doppelzüngigen Zornabladerin Jelinek im Mix von banalen Kaffeekränzchen-Weisheiten und beklemmenden Einsichten, die über optimale Körpermaße hinausgehen.

Hausmuttchen. Dass sich Werner dann während ihrer fast regungslosen, aber fesselnden Textwiedergabe als Hausmuttchen auf der Klomuschel entpuppt, erheitert nicht nur, sondern verleiht der Modelprinzessin Boulevardnähe zu Frau Jedermann. "Besetzt" signalisiert die innere und äußere Abgeschirmtheit gegenüber familiären wie gesellschaftlichen Verletzungen nicht nur bildlich.

Nischentheater. Unter der Mitwirkung von Carlos Schiffmann (Bühne) sowie Lisa D. und Andrea Plabutsch (Kostüme) ist Binder bestes Nischentheater gelungen, das als Co-Produktion vom "forum stadtpark theater Graz" mit dem "schauspielfrankfurt" zu Jahresbeginn nach "Mainhattan" übersiedelt.

 
Krone OÖ, 26. 10. 2002

Körper & Frau im Focus
Jelinek-Collage bei den Kulturvermerken

Elfriede Jelinek hat ihren Schreib-Focus gefunden: den Körper und die Identität der Frau. Eine Verdichtung dessen stellte Ernst M. Binder mit seiner Collage "Körper und Frau. Eine Entäußerung" her. Juliane Werner setzte sie bei den Gmundner Kulturvermerken in Szene: eine atemberaubende Collage.

Einen dichten Kursus dessen, was Jelineks Literatur bedeutet, gab es am Donnerstag in der Gmundner Hipp Halle zu sehen und zu hören. Dort begab sich die deutsche Schauspielerin Juliane Werner als "Claudia" - in Anspielung auf Claudia Schiffer - auf den hell erleuchteten "Thron", saß da im roten Samtkleid wie eine verhärmte Venus. Schüchtern begann sie ihren Monolog, endete bei bissigen aber treffenden Identitätsfragen. In harten Aussagen rechnet Werner kaum übertrieben und stellenweise brillant mit all den Scheinidentitäten der Frauen und gesellschaftlichen Zuschreibungen ab. Ein von Mode, Werbung und Rollenbildern geprägtes Über-Ich konterte mit einer Stimme vom Tonband. Heftiger Applaus für das etwas kurze, einstündige Potpourri.

 
trilogie II
DAS SCHWEIGEN
 
Bühne, Oktober 2003

BÜHNE: Ihr Text DAS SCHWEIGEN über den gescheiterten Versuch, Robert Schumann zu beschreiben, liest sich wie eine Verarschung von Thomas Bernhards BETON.

JELINEK: Ich halte BETON für einen der genialsten Prosatexte von Bernhard. Es geht nicht darum, ihn zu "verarschen". Mich interessieren nur seine McGuffins, wie Hitchcock sie in bezug auf seine Filme erfunden und benannt hat. Also Aspekte, Angelpunkte der Handlung, die nicht weiter erläutert werden, aber um die sich alles dreht. So benutzt Bernhard ja auch Philosophen wie Wittgenstein oder Pascal als McGuffins. Es dreht sich immer um die größten, letzten Dinge (auch z.B. Glenn Goulds Bach-Spiel), aber sie werden immer nur umrissen, angedeutet, treiben die Handlung voran, ohne je erläutert zu werden. Ich habe mich mit einem, der eine fiktive Schumann-Biographie schreibt, sozusagen auf dieses Thema draufgesetzt und es auch ein bißerl parodiert, wenn man so will.

BÜHNE: Ernst M. Binder kombiniert DAS SCHWEIGEN mit den von ihnen gelesenen Text DIE ZEIT FLIEHT, einer Hommage an Ihren Orgellehrer. Binder gilt als Spezialist für komplizierte Stücke.

JELINEK: Auch Einar Schleef hat Binder ja sehr geschätzt, er war lange Zeit der einzige, der seine Stücke inszenieren durfte. Er hat ein besonderes Verständnis für schwierige Menschen und "sprachlastige" Theatertexte, finde ich. Ich bin ja gespannt, wie er meinen Text über meinen Orgellehrer Leopold Marksteiner da hineinbauen, einmontieren wird.

BÜHNE: Wie haben Ihnen die sommerlichen Inszenierungen der österreichischen Politik gefallen?

JELINEK: Also das kann vom Theater niemals übertroffen werden, auch vom Kabarett nicht, was sich derzeit politisch abspielt. Ich sitze vor dem Fernseher und lache ununterbrochen, wenn ich die Nachrichten sehe. Die Politik ist in Österreich durch nichts mehr zu übertreffen, deshalb sage ich nichts mehr dazu, es wäre armselig im Vergleich zur Realität.

Das Gespräch für die BÜHNE führte Reinhold Reiterer

 
Kleine Zeitung, 21.10.2003


"Das Schweigen": Kein vergeblicher Versuch

Schriftstellerin Elfriede Jelinek im Fokus des Projekts "Sprachmusik" im Grazer Literaturhaus.

In einen spannenden Sprachsog geriet man bei der gelungenen szenischen Umsetzung des Jelinek-Textes "Das Schweigen - einer dieser vergeblichen Versuche" im Grazer Literaturhaus. Der Monolog eines Schriftstellers, der an seinem immanenten Streben nach dem Ewigen, dem Allumfassenden - im konkreten Fall an seiner Schrift über Robert Schumann - scheitert, wurde von Ernst M. Binder subtil und schlicht im besten Wortsinn umgesetzt.

Wohltuende Unaufgeregtheit. Bettina Buchholz gestaltete ihre Rolle witzig und intensiv ohne theatralische Überfrachtung. Dazu passte auch der sensible musikalische Kommentar Josef Klammers, der untermalte, begleitete, unterstützte. Den thematischen Zusammenhalt für den Monolog bildete eine Hommage Elfriede Jelineks an ihren Orgellehrer Leopold Marksteiner: "Die Zeit flieht" ist, von der Autorin gelesen, auf Tonband zu hören. Im Gegensatz zu den andernorts so forcierten Multimediaspektakeln wurde dieser Abend von wohltuender Unaufgeregtheit und literarisch-musikalischer Qualität beherrscht.

Eva Schulz

 
Salzburger Nachrichten, 21.10.2003

Auf dem Klavier der Worte und der Stille

Erstaufführung in Graz: "Das Schweigen" von Elfriede Jelinek

Eine Frau kriecht aus einem Flügel, singt, läßt sich von Geräuschen erschrecken, fühlt sich in der Pause, diesem "Loch in der Zeit", wohl: stille Sequenzen im Literaturhaus Graz. Ernst M. Binder hat zwei Texte von Elfriede Jelinek zusammengespannt: "Das Schweigen", in dem ein Autor versucht, einen Text über Robert Schumann zu schreiben, und "Die Zeit flieht", in dem Jelinek über ihren Orgellehrer Leopold Marksteiner räsoniert. Entstanden ist eine feinsinnig-rhythmische Theatercollage mit aussagekräftigem Untertitel: "Einer dieser vergeblichen Versuche".

Für diese Co-Produktion von "dramagraz", "Graz 2003", Landestheater Linz und O.K-Centrum für Gegenwartskunst hat Josef Klammer eine unaufdringliche, aber markante Klanginstallation geschaffen, die aus dem gesprochenen Wort entstanden ist, dieses wiederum unterstützt, verstärkt, mitunter zum Klingen bringt. Ernst M. Binder lässt Bettina Buchholz auf dem Klavier der Worte spielen.

Die Zeit flieht und der Schumann-Text ist immer noch nicht fertig. Zu hohe Ansprüche, zu große Anforderungen. Der Körper ein Schmerz und im Kopf dröhnt eine Mahnung: "Rhythmisch bleiben." Mit Spieluhr-Zitaten klingen die musikalischen Monologe aus. Scheitern ist schön. Manchmal zumindest.

Martin Behr

 
Kronen Zeitung - Steiermark, 21.10.2003

Selbstentfremdung im Rhythmus der Stille

In dem vierzigminütigen Monolog "Das Schweigen" beeindruckt Bettina Buchholz als zynische Autorin, die von ihren Gedanken geplagt wird.

"Sieh deiner eigenen Selbstentfremndung ins Gesicht", sagt Elfriede Jelinek und versucht sich in "Das Schweigen" in den Komponisten Robert Schumann hineinzufinden. Doch sie muss scheitern, denn die Schrift ist nur Schein – nichts ist echt.

Das interessante Konzept von Regisseur Ernst M. Binder geht auf: Er umrahmt den sprachlich geschliffenen Text mit der Aufnahme einer Jelinek-Lesung von "Die Zeit flieht", das sie ihrem Orgellehrer gewidmet hat, und zeigt so ein beinahe widersprüchliches Verhältnis von Sprache und Musik. Josef Klammer komponierte aus der Lesung ein kontrapunktiertes Klanggebilde, das das Schweigen zum Klingen bringt: Durch Echo-Effekte verdichtet sich der Monolog zu einem spannenden Rhythmuserlebnis.

Bettina Buchholz überzeugt als Bühnen-Jelinek: Zynisch tanzt sie um ein "stummes" Klavier, berichtet humorvoll von den Qualen einer Autorin, geht an der Unbedeutsamkeit der Schrift fast zugrunde. Übrig bleibt ein Wunsch: "Endlich endgültig schweigen zu dürfen, einig mit uns."

Tobit Schweighofer

 
Kronen Zeitung - Oberösterreich, 26.10.2003

Jelinek Vorpremiere:

Die perfekte Sprachkunst

Elfriede Jelinek steht im Mittelpunkt einer Theatertrilogie, die am 18. November im Linzer O.K Centrum uraufgeführt wird. Bei den Kulturvermerken in Gmunden gab es am Freitag eine Vorpremiere: Bettina Buchholz in Bestform!

Keine andere als Elfriede Jelinek – gerade mit dem Lessingpreis ausgezeichnet – hat so sehr an der Auflösung des Individuums durch Entpersönlichung der Sprache gearbeitet. Sie entlarvt aber auch die männliche Literaturbeschreibung.

In der Trilogie stehen denn auch Frauen und "zur Sprache kommen" im Zentrum. Im Vorjahre präsentierte Juliane Werner Jelineks "Körper und Frau" bei den Kulturvermerken. Heuer kroch Bettina Buchholz in der Gmundner Hipp Halle aus einem weißen, abgeschundenen Klavier und räsonierte in "Das Schweigen" über den Komponisten Schumann, über Biografien, über Schrift und Sprache. Buchholz zog das Publikum mit ihrer perfekten Sprechkunst in den Bann. Ernst M. Binders Regie blieb zurückhaltend.

Martin Hornegger

 
trilogie
/ KÖRPER UND FRAU // DAS SCHWEIGEN /// ALLEINSEIN
 
OÖ-Nachrichten, 12. 11. 2003

Vorbericht

Elfriede Jelinek schreibt über das Model Claudia Schiffer

Regisseur Ernst M. Binder leitet das Grazer forum stadtpark theater (neu: dramagraz). Am 18. November wird im Linzer O.K-Centrum die Trilogie ":Wer will allein sein: eine untersuchung" von Elfriede Jelinek in Binders Regie uraufgeführt.

Ernst M. Binder widmet sich vor allem der deutschsprachigen aktuellen Theaterliteratur, wobei er eine Vielzahl an Uraufführungen im In- und Ausland verzeichnen kann.

Das Jelinek-Projekt ":Wer will allein sein: eine untersuchung" besteht aus drei Teilen, wobei Teil 1 "eins: Körper und Frau. eine entäußerung" und Teil 2 "Das Schweigen. einer dieser vergeblichen versuche" bereits in Graz uraufgeführt wurden.

Nun folgt Teil 3 "Alleinsein. ein tatsachenbericht" in Linz, wo erstmals die gesamte Trilogie mit Juliane Werner und Bettina Buchholz zu sehen ist.


Ernst M. Binder über:

Jelinek-Projekt: Elfriede Jelinek gehört für mich zu den größten Dichtern und Dichterinnen im deutschsprachigen Raum. Ich zähle da Peter Handke und Heiner Müller dazu. Diese drei schreiben Texte, in denen nicht vorgegeben wird, Baron F. trägt die Kaffeetasse von A nach B, sondern es geht ausschließlich um den Text. Und das bedeutet eben Auseinandersetzung mit diesem Text, dieser Sprache.
Thomas Bernhard durfte ich, als ich ihn inszenieren wollte, nicht inszenieren. Und jetzt ist er mir zu altmodisch und nicht mehr zeitgemäß.

Elfriede Jelinek: Frau Jelinek hat ja eine große Affinität zur Mode. Sie ist die am besten und extravagantesten gekleidete Autorin, die ich kenne. Mich hat immer interessiert, welche Frauenfiguren beschreibt sie?
Ich bin auf "Körper und Frau", diesen Text über das Model Claudia Schiffer, im Interet gestoßen. Den Text hat sie für das Schauspielhaus Frankfurt als Auftragsarbeit geschrieben, der ist am Damenklo in Endlosschleife gespielt worden.
Ich habe um diesen Text herum eine Montage mit assoziativen Jelinek-Texten über Mode oder andere Frauen gebaut. Ich habe sie natürlich gefragt, ob ich das machen darf, und ihre Antwort war sinngemäß: Was für Einar Schleef gut ist, reicht für mich allemal.

Schauspieler: Es wird an den Theatern immer mehr produziert. Ein Schauspieler muss deshalb in mindestens fünf bis sieben Produktionen gleichzeitig spielen. Da bleibt keine Zeit, auf die Entwicklung des Einzelnen einzugehen. Ich will einen Schauspieler nicht benützen, sondern er soll die Rolle erfüllen, sonst ist er nicht glaubwürdig.

Zukunft der Theater: Überall müssen 80 bis 90 Prozent Auslastung sein. Es ist ja schon toll, wenn sich ein Theater eine kleine Bühne leistet, auf der man ausprobieren darf. Die größeren Theater werden sich wohl Produktionsmethoden von freien Theatern aneignen müssen. Es ist idiotisch, am Sonntag nicht proben zu können. Ich verstehe schon, dass alle einen Tag frei haben müssen, aber warum am Sonntag? Gefragt ist Flexibilität. Die Zukunft gehört Projekten, in denen man sich mit Autoren und vor allem Inhalten auseinandersetzt.

Freie Theaterarbeit: Eigentlich will ich an dem Kuchen, der ja relativ groß ist für die Staatstheater, schon auch mitnaschen. Deshalb suchen wir auch verstärkt Kooperationen mit größeren Theaterhäusern. Es wird ja leider in der Öffentlichkeit zumeist übersehen, dass das forum stadtpark theater/dramagraz nach dem Burgtheater jenes österreichische Theater ist, das am meisten Einladungen zu Theaterfestivals bekommt.

Ernst M. Binder:1953 in Mostar/Ex-Jugoslawien geboren, aufgewachsen in Feldbach/Stmk. Seit 1973 Schlagzeuger bei diversen Bands, dann Autor und Regisseur. Seit 1987 Leiter des dramagraz/forum stadtpark theater. Regisseur vieler Uraufführungen: "Versuch über den geglückten Tag" von Peter Handke, "Es singen die Steine" von Gert Jonke, "Totentrompeten" von Einar Schleef 1995, "Mein Hundemund" von Werner Schwab 1992 u. v. m.

Silvia Nagl

 
OÖ-Nachrichten, 20.11.2003

URAUFFÜHRUNG: Trilogie mit Texten von Elfriede Jelinek in Linz
Über Frausein und Alleinsein

Die Trilogie "Wer will allein sein" mit Texten der derzeit bedeutendsten deutschsprachigen Autorin Elfriede Jelinek: Der dritte Teil wurde am Dienstagabend im Mediendeck des Linzer O.K-Centrum uraufgeführt. Teil 1 und 2 dieser Kooperation zwischen Grazer forum stadtpark theater, Landestheater Linz und O.K-Centrum wurden in Graz präsentiert. Erstmals aber ist in Linz nun die gesamte Trilogie zu sehen.

Klug, bildreich, mit Raum für Zwischentöne und -gedanken, voll feinen Humors und vor allem so wahr sind diese Texte der Wiener Autorin, die Regisseur Ernst M. Binder zu einer homogenen Bühnenfassung montiert hat.

"Wer will allein sein" bestehend aus den Teilen "Körper und Frau", "Das Schweigen" und "Alleinsein": Ein Lehrstück auch darüber, wie perfekt und prononciert Text vorgetragen werden kann. Die in Berlin lebende Schauspielerin Juliane Werner und die am Landestheater Linz engagierte Bettina Buchholz haben gezeigt, wie deutlich und eindringlich Bühnensprache sein kann - und soll. Und haben dadurch diesen Abend zu einem faszinierenden und fesselnden Ereignis gemacht.

In Teil 1 schillert Juliane Werner facettenreich beim Monolog eines Unterwäschemodels namens Claudia, das in einer Klomuschel Zuflucht vor einer schönheitsbessenen Scheinwelt sucht. Teil 2, "Das Schweigen", über die Mühen des Schreibens und Komponierens und die Angst vor dem Versagen, eindrucksvoll umgesetzt von Bettina Bucholz.

Respekt auch vor der Textsicherheit der Schauspielerinnen bei diesen stellenweise sehr massiven Textgebirgen, bei denen die Zuhörerschaft ebenso gefordert ist.

Ernst M. Binder lässt durch eine minimalistische Regie die pure Konzentration auf den Text zu, vermeidet Bedeutungsschwere, und entspricht diesen immer auch wortverspielten Sprachbildern in ihrer tänzelnden Sprachmelodie.

Teil 3, "Alleinsein": Ein analytischer, ironischer, ja sarkastischer Text über Frausein, den Werner und Buchholz - in Dirndl und Bergschuhe gezwängt - vortragen. Adrette Mädels, genau so, wie Frauen eben gerne gesehen werden.

Kompliment an das Publikum, das zweieinhalb Stunden derart konzentrierte Stille bewahrte, als ob es derzeit keine Schnupfennasen gebe.

Silvia Nagl

 
Neues Volksblatt, 20.11.2003

Ein Abend der Konzentration

Elfriede Jelinek, die als Protest gegen die schwarz-blaue Regierung ihre Werke einst nicht länger an österreichischen "Staatstheatern" aufgeführt sehen wollte, wird mittlerweile auch hier zu Lande mehr denn je gespielt. Im Mediendeck des Linzer O.K kam am Dienstagabend - als Kooperation mit dem Landestheater - ihre Trilogie ":Wer will allein sein:" zur "halben" Uraufführung, denn Teil 1 ("Körper und Frau") und Teil 2 ("Das Schweigen") waren bereits in Graz bzw. Gmunden zu sehen. Regisseur Ernst M. Binder ist mit den hervorragenden Darstellerinnen Juliane Werner und Bettina Buchholz ein konsequenter, stimmiger Abend gelungen: Mit sparsamen Mitteln und höchster Konzentration der Protagonistinnen forderte Jelineks monologisches Kreisen um weibliche Selbstwahrnehmung und Körperbewusstsein, Entfremdung und die dem Schriftstellerdasein innewohnende Gefahr des Scheiterns oder auch die aktuelle "Aufladung der Gegenwart mit Männlichkeit" beim zahlreich erschienenen Publikum volle Aufmerksamkeit und Anerkennung.

Birgit Thek

 
Krone Oberösterreich, 20.11.2003

Jelinek-Trilogie im O.K: Bezwingender Rhythmus

Jelinek-Texte sind schwierig? Sperrig zu lesen? Vergessen Sie diese Vorurteile, kaufen Sie sich eine Karte für die Jelinek-Trilogie :WER WILL ALLEINSEIN: im Linzer O.K Centrum, lauschen Sie dieser Sprachmelodie, deren Rhythmus sich bezwingend in die Ohren legt, deren (Wort-) Witz bisweilen großartig ist. Zu schauen gibt es wenig. Juliane Werner in rotem Samt gehüllt, ein altes Klavier spuckt Bettina Buchholz aus, kaltes Neonlicht – mehr Futter gibt Regisseur Ernst M. Binder den Augen nicht. Was hier zählt, ist das Wort, sind viele Wörter – großartig bewältigt von den beiden Darstellerinnen. Keine Minute möchte ich missen!

Milli Hornegger

 
Die Presse, 20.11.2003

Zwei Mädel im Dodelland

(Kl)eine Jelinek-Uraufführung in Linz: "Wer will allein sein", eine Trilogie über Frauen und Künste.

Elfriede Jelineks rasanter Texte-Webstuhl bringt kontinuierlich Früchte hervor, die nicht für die Bühnen gedacht sind. Mit klassischen Theatermitteln (Gestik, Mimik, Bewegung, Sprechen), und ohne viel Aufwand, kann sie jede Kellerbühne auf die Reise schicken zu einem Publikum, das vielleicht dicke Jelinek-Romane kauft. Doch an den vielen luziden kürzeren Texten, alles Gene eines einzigen Lebensopus, geht der Buchhandel vorbei. Die Dichterin stellt sie laufend und kostenlos ins Netz (http://ourworld.compuserve.com/homepages/elfriede). "Bambiland", ihre Spontanreaktion auf den Irakkrieg, seit Frühjahr im Internet, hat am 12. Dezember in Christoph Schlingensiefs Regie im Burgtheater Premiere.

Das Linzer Landestheater lockte am Dienstag ins "O. K. Centrum für Gegenwartskunst" zur "Uraufführung" der Trilogie "Wer will allein sein". Teil I, "Körper und Frau", mit einer an Claudia Schiffer erinnernden Monologrolle, brachte Ernst A. Binder schon in Graz heraus - freilich durch Einsprengsel aus Stücken wie "Todtnauberg" verschlimmbessert. Teil II, "Das Schweigen" (Jelinek vom Band über ihren Orgellehrer Marksteiner und ein Monolog über Künstler als Weltschöpfer und -versager) sahen schon Gmunden und Graz.

Der neue Nachschub, "Alleinsein", macht den Jelinek-Abend nur länger, doch nicht besser. Auch dieses Viertelstündchen füllt ein famoser, perlenreicher Lesetext: feminines Grübeln über ödipale Ursachen von Männerkrieg, Fundamentalistenterror, islamischer Frauenverhüllung etc., gewidmet Jutta Limbach, vormals Präsidentin des deutschen Bundesverfassungsgerichts, nunmehr Präsidentin der Goethe-Institute.

Man darf ihn als Verständigungsakt zweier illusionsloser, weltbewusster Frauen lesen. Doch Ernst M. Binder zerrt ihn herunter zum Dodelspiel in einer klischeehaften Alpenprovinz. Juliane Werner und Bettina Buchholz (in den Soloparts davor akustisch betörend) ziehen in Dirndlkleidern, die Beine in Bergschuhen, die frauenstammtischreife "Wir armen Weibchen"-Nummer ab - unter rotweißrotem Licht zur einmal militärisch geblasenen, ein andermal von Mädchen gehauchten Bundeshymne. Brrrr.

Hans Haider

 
DER STANDARD, 25.11.2003

Trilogie der Entäußerungen

Zwei bekannte und ein neues Stück von Elfriede Jelinek im Linzer O.K Centrum

Linz - Die optische Verwandlung von der in hochgeschlossenem Samt und strengem Scheitel reglos auf dem Thron sitzenden Prüden zum Unterwäschemodel, dessen anderes Ich aus der Klomuschel murmelt, korrespondiert keineswegs mit einer Versinnlichung des Geschehens: Unnahbar sind sie beide, bleiben eingebettet in einen Kokon des Selbstschutzes.

Körper und Frau - sie suchen sich im durch männliche Außenblicke durchbrochenen Spiegel. In einem Dialog, der wie ein rhythmischer Sprachstrom aus dem zunächst natürlichen, dann lippenstiftbewehrten Mund der großartigen Juliane Werner strömt, eruptiv, dann wieder listig unterspülend. Ein inhaltlich-formal genial verwobener Text in der punktgenauen Inszenierung von Ernst M. Binder.

In Linz wurde er nun im Rahmen einer Koproduktion des Landestheaters mit dem O.K Centrum durch Das Schweigen und die Uraufführung von Alleinsein ergänzt und zu einer Trilogie der die Außenwelt kommentierenden Entäußerungen verbunden. Die Stimme der Jelinek durchbricht vom Band das Schweigen, elektronisch virtuos dekonstruiert von Josef Klammer, bevor Bettina Buchholz einem Flügel entsteigt und Robert Schumanns Schöpfungsqualen ironisch unterläuft:

"Irgendwann muss er aufstehen, das Schöne als noch schöner empfinden, das Schreckliche als noch schrecklicher, und dann soll er es gefälligst gefällig ausdrücken . . ." Um dann zu entdecken, dass Schöpfertum und Leben einander ausschließen, dass Sonne und Regen nur den Vergessenen jene spontanen Selbstgefühle schenken, die ohne fremde Filter durch die Haut dringen. In Teil drei schließlich kommen Juliane Werner und Bettina Buchholz in Dirndl und Bergschuhen auf das Podium, um das Umfeld des unfreiwilligen Alleinseins selbst-bewusster fraulicher Entäußerungsversuche sarkastisch zu durchleuchten.

Immer ganz nahe an der politischen Analyse und doch voll poetischer Sogkraft. Sehr subjektiv verletzt von Krieg und Terror, Vatermord und Mutterschändung. Ein Kosmos der Gewalt, der doch leer ist, keine Sprache aufnehmen kann und die Sprechenden allein lässt.

Reinhard Kannonier

 
TEXTE zur Trilogie : WER WILL ALLEIN SEIN :


VON ELFRIEDE JELINEK

/ KÖRPER UND FRAU

// DIE ZEIT FLIEHT

// DAS SCHWEIGEN

/// ALLEINSEIN

FRAUEN

ÜBER ELFRIEDE JELINEK

 
VON ELFRIEDE JELINEK

Man spricht nicht einfach wie man spricht, sobald man schreibt. Es treibt einen dazu, mit oder ohne Begeisterung, über sich hinauszugehen und gleichzeitig auf sich zurückzuschauen. Ohne immer genau zu wissen, was man da schreibt.

Österreich. Ein Wintermärchen


Das Sprechen kann man auch ablehnen, nicht aber das Schreiben, wenn es an einen herantritt und einem auf die Schulter klopft, keinesfalls als ein Freund. Man wollte etwas so schön sagen, aber man hat im Eifer, unbedingt dies oder das sagen zu müssen, vergessen, wie man es noch besser, noch schöner sagen könnte. Daß es jeder glauben muß. Aber man spricht halt weiter. Man spricht. Es tritt ein Stil auf, den man sonst nirgendwo findet. Und der Stil sucht sich sein Opfer, und oft ist es die Politik, die im allgemeinen besonders stillos ist, auch wenn sogar einer wie Robert Walser, ein Bescheidener, nein, vielleicht eher ein auftrumpfender Bescheidener, etwas wie Stil im persönlichen Auftreten wie in der Politik irgendwann einmal ausgemacht zu haben glaubt und auch geglaubt hat zu wissen, was das ist. Hier führt sich einer so auf, dort ein andrer ganz anders. Das war vorher ausgemacht, daß man sich woanders anders aufführen soll als hier. Man sollte überhaupt gleich woanders sein, aber man ist es nicht. Man schreibt, als wäre man woanders, aber man muß hierbleiben. Den Stil stiften still die Dichter, die einfach nicht still sein können, obwohl sie, verglichen mit anderen, und als Dichter findet man immer Vergleiche, still doch wieder sind. Sie stiften und gehen stiften, aber sie wollen nichts dafür haben. Andere sind immer lauter, und es sind nicht die Lautersten, die das sind. Der Stil. Er soll von ihnen bleiben. Er kann aber auch flüchten, wenn ers noch schafft. Dann bleibt das Gesagte nackt da liegen, wie es die Journalisten tun oder tun sollen, aber auch das Nackte reizt niemanden mehr. Es gibt zuviel davon, an jeder Ecke, an jedem Kiosk. Es kann ruhig da liegen, es wird nicht bestiegen. Man kann nicht auf jedes, was man sagt, auch stehen. Manches ist häßlich und unangenehm, und man will einfach nicht auch noch drauf, man will höchstens draußen stehen und es sich auf eine große Leinwand projiziert anschauen, das macht es irgendwie weniger wirklich. Und auch die Reaktion auf jemand, der sein Selbst in sein Schreiben hineinbohrt, weil er weiß, es geht um sein Leben, würde nur noch matte Reaktionen hervorrufen...


Österreich. Ein deutsches Märchen


Ich habe mich selbst aufgehoben im Sprechen, aber da war nichts, was aufhebenswert gewesen wäre. Das ist es ja. Es darf auch nichts Bleibendes bleiben. Darauf ist als erstes zu verzichten, daß etwas bleibt. Erst muß man verlorengehen, dann muß man, indem man sich verloren hat, sicherstellen, daß man sich niemals wiederfinden kann, auf keiner Einladung, keinem Brief, keiner Ehrung, keiner Grußkarte (höchstens noch auf der Todesanzeige), es scheint einem das Leben ja ohnedies nie schöner als in dem Moment, da man es verliert, sagen uns eindringlich die, die schon tot sind und es hinter sich haben. Ist aber nur der Neid auf die Lebenden. Hoch wer auch immer! Sie sollen leben!


Österreich. Ein deutsches Märchen


Literatur ist nicht in erster Linie auf Kommunikation angelegt. Bei mir ist es überhaupt ein Zwang zu sprechen, egal wer mit zuhört. Daher auch das oft Obsessive meiner Texte. Ich spreche sozusagen zu mir selbst. Auf den Kanzler Kohl würde ich mich zwecks Erlösung(aber auch sonst) keinenfalls verlassen. Keine Person, kein Politiker und kein Künstler, hat jemals die Macht gehabt durch irgendwelche Aussagen die Verbrechen der Vergangenheit zu einem abgeschlossenen Kapitel zu machen oder gleich das Ende der Geschichte auszurufen. Und gerade die deutsche (und österreichische Geschichte) hat ja etwas Vampirhaftes, das heißt sie kann nicht sterben, sie kommt immer wieder heraus, und gerade dann, wenn man sie besonders tief begraben glaubt, schon ist sie wieder da. (..) Man kratzt nur mit einem Fingernagel, und schon öffnet sich erneut der Boden und wird wieder bodenlos.


Das liebe, gute, mollige Land


Es stehen einander zwei Dinge gegenüber, die Sprache und ihr Besitzer. Die Sprache ist die Sprache. Sie mag bedeuten, was sie will, sie mag auch nichts sagen und doch sprechen, doch immer wird, was sich der Sprecher denkt an einem Gegenstand festgemacht. Das wird ein Fest! Der Sprecher darf endlich seinen Gegenstand verschlingen. Manche werden ihn leben lassen, aber nicht hoch. Es wird
jedoch weiter nichts gemacht dabei, außer das das Grenzenlose, das Denken an die Sprache festgebunden wird, und an dieser Fessel zerrt es seit jeher.


Was uns vorliegt. Was uns vorgelegt wurde


Ich weiß, und viele andre wissen auch, daß nur wenig zu erhoffen ist. Nur die unauffällige Deklassierung aller, die die Kunst leben. Und durch das Schweigen entzieht man sich allem ganz leicht. Aber ich spreche hier, und ich spreche morgen dort und auf Papier und oft noch dazu papieren, und mein Sprechen wird für etwas verbraucht, das ich nicht kenne. Gut so. Lächerlich. Noch viel besser!
Und trotzdem, ich versuche, alles und jedes zusammenzuzwingen, um etwas zu sagen, denn das eigene Leben hat nur Sinn, wenn es mit dem der andern verbunden ist. Wer sich souverän fühlen will, kann sich niemals dem Anderen überlegen glauben, es sei denn, der Andre glaubt sich ihm überlegen. Und von Dingen kann sich Überlegenheit niemals herleiten. Aber auch nicht von der Selbstüberhebung der Thomas Bernhard´schen "Geistesmenschen", die einen geistigen Adel behaupten, den sie nicht haben, und Einfluß, den sie auch nicht haben, obwohl sie oft genug getäuscht werden - manchmal sogar mit Fuhren von Mist -, sie hätten ihn, und sie haben ihn dann am wenigsten, wenn man ihnen am eindringlichsten suggeriert, sie hätten ihn doch, den Einfluß, verbunden mit Macht, die sie ohnedies nie haben dürften. Die Macht haben immer andre. Macht nichts.


Österreich. Ein deutsches Märchen


Ich habe leider nur gelernt, irgend etwas Unhaltbares zu behaupten, was noch dazu übertrieben ist und wahrscheinlich nicht einmal stimmt, und wenn ich es doch halten kann und es stimmt vielleicht sogar, dann haben es viele andre auch schon gesagt. Der Dichter soll lieber sagen, was sonst keiner sagt, und er soll sein, wo sonst keiner ist, aber dabei immer schön die Grenzen beachten.


Österreich. Ein deutsches Märchen


... Und in dieser großen selbstüberhöhenden Leidenschaft, die mich nirgendwohin gebracht hat, außer vielleicht zu dieser oder jener Preisverleihung, in meiner hoffnungslosen Sehnsucht, etwas sagen zu können, was irgendeine Wirkung hat, mußte ich doch einsehen, daß ich eine Idiotin bin, um das altmodische Wort Närrin zu vermeiden, das leider schon für alle Zeiten Nietzsche gehört, und dem was wegzunehmen würde ich mich nie trauen.
Nichts zu sein und sich dabei auch noch lächerlich zu machen, das ist das Gegenteil davon, jemand zu sein und grandios; und gleichzeitig ironisiert es diesen Zustand, den keiner will, aber jeder hat, nämlich eben: nichts zu sein; und jemand wie ich, die etwas sagen will, das vielleicht gültig sein soll, wenigstens für eine kleine Weile, die ist besonders lächerlich. Das bedeutet, seine Person erheben zu wollen. Das bedeutet, eine Kriegsschuld zu machen, die immer die andern haben. Das Gesagte stößt immer nur offene Türen auf. Und ausgerechnet hinter dem Verkünder, wie der grad in sein Horn stoßen will, fallen sie dann ins Schloß und hauen ihn in sein aufrechtes Rückgrat, auf das eine wie ich doch so stolz ist. Ist es eine Befreiung, endlich frei zu werden von der Herrschaft, die die Selbstbehauptung über die Dinge ausüben wollte oder sollte, fragt Georges Bataille. Und er fährt fort (na, er bleibt natürlich da, wir alle wollen immer fortfahren, doch wir bleiben ebenfalls hier), daß Herrschaft den Verzicht auf alle Privilegien bedeute. Daß ich hier stehe und spreche, das ist schon eins von diesen Privilegien, das jederzeit gegen mich verwendet werden könnte, bevor ich noch das heutige Preisgeld für etwas andres verwenden kann. Ich verwende mich hier einmal für mich selbst, darauf verzichte ich einmal nicht, aber ich weiß, daß es sinnlos ist, da ich, während ich mich für mich selbst verwende, bereits von andren zur persönlichen Verwendung eingeplant bin, und wieder weiß ich schon wofür: lächerlich zu werden


Österreich. Ein deutsches Märchen


Meine Methode besteht ja zum Teil darin, dass ich Vorwürfe, die mir oft gemacht werden (Gutmenschentum, Gesinnungsliteratur, Verallgemeinerungen etc.), mir sozusagen wie ein Kleid anziehe, sie überspitze und dann zurückwerfe. Diese Erlösungsphantasien habe ich nicht, sie werden mir zugeschrieben. Und ich werfe sie hier spielerisch wieder zurück. Vergleichen könnte man das mit der sogenannten Faschismuskeule oder Ausschwitzkeule. Sie wird als Vorwurf imagieniert, um sie dann gegen den zu schwingen, der sie gar nie erhoben hat. Es wird ja Künstlern überhaupt gern Anmaßung und Selbsterhöhung unterstellt. Einerseits vergötzt man sie und erhebt sie zu Popanzen (das sind ohnedies tönerne Gestelle), andererseits tut man das nur, um umso besser verachten zu können, was sie sagen.


Das liebe, gute, mollige Land


Na, ich baue jedenfalls jetzt einen großen schönen Gemeinplatz, nämlich dass ein Genie oft jung stirbt, aber zu diesem Zeitpunkt bereits, früh, vollendet ist, merke, dass der Platz schon vergeben ist, nun, so stelle ich dort wenigstens, natürlich vergeblich, eine Sandkiste für die Kinder auf, die mir das nach-sprechen sollen, mehr kann ich wirklich nicht tun. Sie schlagen dabei mit ihren Schaufeln aufeinander ein, die Kinder, weil dieser Gemeinplatz ihnen jeweils allein gehören soll, ein anderes Kind kennt ihn aber auch und will mit seiner Schaufel dort ebenso hineinfahren, damit dann was drauf ist. Eine ordentliche Portion, keine halbe. Es ist aber nur: Sand. Weich wie Sprache. Hart wie Sprache. Das was nachgibt. Ähnlich wie Wasser, das aber oft nicht nachgeben will und seine Gäste verschlingt wie die Geschichte ihre Protagonisten oder die Krankheit den Mediziner. Bin ich etwa das Kind? Leider hab ich zuwenig drauf.


Was uns vorliegt. Was uns vorgelegt wurde


Frauen sind Frauen, das ist eine unumstößliche tautologische Wahrheit. Sie müssen es sich nicht erstreiten, daß sie sie selber sein dürfen, im Gegenteil, sie dürfen nichts anderes als sie selber sein. Aber dieses Sein ist gleichzeitig eine Enteignung um sich selbst, eine Verweigerung, und zwar nicht nur eine um Geld, um Räume, um Möglichkeiten aufzutreten, sondern die Verweigerung von allem, was über dieses bloße Sein hinausgehen könnte.


Frauenraum


Wie ja auch die Bachmann in ihrem Roman "Malina" literarisch modellhaft ausführt, muß die Frau, will sie sprechen, ein männliches Ich ausbilden. Das weibliche Sprechen ist, will man es psychoanalytisch ausdrücken, eine phallische Anmaßung, etwas, das für sie eben nicht vorgesehen ist. Weder in der Freudschen Kulturtheorie (Freud begründet ja die von ihm als gegeben angenommene Tatsache, daß die Frau, außer Flechten und Weben - was vom Verhüllen ihres Genitals herrühren soll - keine großen Kulturleistungen erbracht habe, damit, daß sie nicht, wie der Mann, sublimieren müsse, kein annähernd starkes Über-Ich ausbilden könne), noch in der öffentlichen Meinung, der veröffentlichten Meinung, wird der Frau ein Sprechen zugestanden, das über das Sprechen-Lehren des Kindes (man sagt ja "die Mutter-Sprache"!) hinausgeht in den Raum des Symbolischen. Trotzdem: Begeht eine Frau einmal diese Überschreitung, muß sie wiederum ein weibliches Ich herauskehren, will sie auf dem Markt der Körper konkurrieren, um einem Mann zu gefallen. Sie muß sich also immer nach dem Anderen richten, während der Mann stets, im Sprechen wie auch sexuell, er selber bleiben kann und darf.


Überschreitungen


Die Stöße und Tritte, die die Frauen erhalten, wenn sie an die Öffentlichkeit wollen, die sollen noch keine Erschütterung sein, die sollen nur ein sanftes Wiegen sein. Gewogen und für zu leicht befunden. Die Erschütterungen sind für das Nahen der Großen reserviert, für die man als Frau den Teppich absaugen sollte, rechtzeitig, bevor sie kommen, unsere stadtbekannten Größen. Wenn die Frauen selber kommen wollen, dann sollen sie dabei zumindest ruhig sein. Das ist das beste. Wenn sie etwas zu sagen haben, dann nennt man das tratschen oder plaudern. Aber ein Sagen soll es nicht sein. Plaudern kann man auch zu Hause, am hübsch gedeckten Kaffeetisch, oder am Rande eines Kinderspielplatzes.


Frauenraum


Es wäre die größte narzißtische Kränkung, beim Schaffen auf einen anderen, weiblichen, Menschen angewiesen zu sein! Vielleicht ist es nur denkbar, daß der Mann, gebiert er einmal, immer nur sich selber gebären wollen kann, also Mann und Frau in einem sein muß. Da er (...) letztlich die Demütigung des Schaffens, bei der man ja immer kleiner ist als das, was man schaffen möchte, nur ertragen kann, indem man sich selber schafft, sich zu sich selbst hinaufzieht, um größer zu werden als man je vorgesehen war. Die Frau schafft aber immer nur das, was kleiner ist als sie, das Kind.


Überschreitungen


Spott wirkt immer kastrierend. Spott und Ironie sind objektivierende Kunstmittel, die ein Ich-Bewußtsein voraussetzen, das von sich absehen kann. Spott und intellektuelle Arbeit einer Frau sind im patriarchalen System Überschreitungen.


Überschreitungen


Musik ist: den leeren Raum mit Zeit bearbeiten. In dem Sinn, dass man auf ihn einschlägt, weil er einem Angst macht.


Über Olga Neuwirth


Diese Komponisten des brüchigen Bodens, den sie doch immer wieder beschwören - es ist der sogenannte Heimatboden, der brüchigste von allen also, weil natürlich jeder ausgerechnet von ihm Tragfähigkeit erwartet - schreiben über das, worauf sie gewachsen sind, um sich zu vergewissern, überhaupt da zu sein, und dabei fällt es ihnen unter den Füßen ins Nichts; und schon das Bemühen, es zu fassen, wird zu einer endlosen Erniedrigung, die einen zum Hund macht, der etwas bellend umkreist, das er nicht kennt. Das liegt daran, daß die Angaben, die gemacht werden, um die Töne in ihrem Koordinatensystem zu verorten, damit sie etwas Zusammenhängendes zum Hören ergeben sollen, immer nur dem entnommen sein können, das wieder aus diesem Ton-System kommt. Daher meint Musik ja immer nur sich selbst, weil sie nur durch sich selbst zu erklären ist.


Zu Franz Schubert


... Und das führt in den Bereich aller Dinge und wie sie einem begegnen. Zuerst wird etwas gezeigt, dann begegnet es uns, um uns, inmitten des Gezeigten, als Subjekte konstituieren zu können, ohne daß wir zuvor wüßten, wer oder was wir überhaupt sind. Und weil wir es nicht wissen, kann es das uns Gezeigte naturgemäß auch nicht tun. Wir selbst aber wissen es nicht. So führt die Musik, speziell diese Musik (Anm.: von Schubert), über die Gegenstände hinaus in den eigenen Bereich, und der Bereich der Musik ist die Zeit, der aber, in Schuberts Fall, ihr Raum verlorengegangen ist, auch wenn der Raum heute wieder ein schöner Konzertsaal ist. Wenn ein Zeit-Raum Begegnungen ermöglicht, dann erlaubt diese Zeit ohne Raum solche Begegnungen eben gerade nicht, weil diesem Komponisten, wie wenigen anderen, während er die Zeit angehalten hat, um selber kurz anzuhalten, der Raum davongelaufen ist, das heißt: alles was um die Dinge so herumliegt. Notgedrungen muß, um etwas zu bestimmen, ja Raum und Zeit angeführt werden, Biedermeier, Metternich'sche Zensur, Verschlüsselung, Verschleierung, etwas meinen ohne es zu sagen, etwas sagen ohne es zu meinen, aber daß etwas von vorneherein ein Ding ist, über das nichts zu erfahren wäre, weil es zwar ein Gewolltes und Gemachtes (und das sehr bewußt!) ist, aber nicht ein wollig Umstricktes und nicht ein Eingemachtes, das man behalten könnte, in die Sammlung legen und anschauen bzw. anhören, wann immer man möchte. Das was fehlt ist die Hauptsache, und es ist nicht etwas ausgespart, sondern gerade daß es fehlt, macht es ja aus!


Zu Franz Schubert

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Körper und Frau

Claudia

(Aus einer verschlossenen Klokabine, vom Band, Computerstimme):

(Stöhnen) Glühendschön mein Körper in der Muschel, wie soll ich ihn noch mehr loben? Er entsteigt. Ich und mein Körper gehören zusammen, und jetzt will er plötzlich weg aus der Muschel, will leben, will fort vom Ruf, der Gestalt annimmt, will weg von den Düften, die von meiner Persönlichkeit ausgerufen werden. Bleib, du Körper, bleib bei mir! Gut, du gehst fort. Aber nicht ohne mich, sonst müßte ich ja auch gehn. Ich habe was Zwingendes an mir. Bleib! Ihr mit dem frischen Aussehn, das mir nacheifert: Seid nicht so schön wie ich! Ich: sei schöner! Ohne meinen Körper wäre ich nicht mehr da. Darin besteht ja gerade meine Persönlichkeitsstruktur. Sei in mir zu Hause, Körper, nein, umgekehrt, sei in deinem Körper total zu Hause, Claudia! Bleib, Claudia! Bleib, Körper! Diese schöne Muschel, der ich Venus entsteige, nachdem ich sie mit Mut bestieg, in ihr will ich mich und meinen Körper miteinander denken lassen. Zu zwein. Dürfte ich mit dir vielleicht einer Meinung sein, Körper? Ich speichere Worte in dir. Ich speichere Kleider auf dir. Geh nicht fort! Bitte schließen auch Sie die Tür nicht vor mir! Sonst haben Sie nämlich keine Chance mehr, mich und Körper zu sehen! Denken Sie nicht nur an mich, denken Sie auch an mein Werk, bitte! Ich habe mir doch dieses tolle Haus auf Mallorca bauen lassen, damit ich meine Probleme hineinlegen kann. Ich habe keine Probleme. Man braucht meinen Körper nicht, um dieses Haus schön zu finden, über Ungeschicklichkeiten an seiner Fassade sehen Sie bitte hinweg. Schön mein Körper, der sich zeigt, der Muschel entsteigt, wie eine kaum vom Nebel verschleierte Gegend. Finden Sie nicht? Aber hallo. Hier wird nicht besetzt, hier ist besetzt! Hallo! Hochpolitisch mein Denken, hochgradig nervös mein Handeln, hochmodern meine Kleidung, Hochleistung mein Körper. Der gibt was her. Der gibt nichts her. Es ist ein Zusammenspiel von mir und ihm. Ich setze alles dran, ihn zu befreien, aber nur, um ihn behalten zu können. Schauen Sie mein rosa Höschen und den rosa BH an, ich wollte, sie verhielten sich anders zu mir, erweiterten meine Figur zu etwas Nettem, damit jede Frau glaubt, sie hätte es auch, wenn sie nur wollte. Die Menschen fürchten mich und sind scheu vor mir, dabei bin ich das Anschauensallerwerteste! Mein Mund sagt verächtlich etwas dazu. Meine Körperteile gehören zusammen und spielen gemeinsam wie die Fohlen und die Zicklein, sie spielen genau soviel wie die Hände tragen und die Augen fassen können. Dann hören sie wieder auf. Das ist wie beim Bauen, nur alle Ziegel gemeinsam. Körper, du bist lediglich meine Grabbeigabe, das Wesentliche bin doch ich mit diesem Stück insgesamt Körper: eins kommt ohne das andre nicht aus. Brüste haben mit Schwierigkeiten zu kämpfen, na, meine nicht, Beine haben mit Schwierigkeiten zu kämpfen, na, meine nicht, das Haar hat grundsätzlich immer mit Schwierigkeiten zu kämpfen, na, meins nicht. Ja. Schauen Sie nur genau hin! Meine Körperteile können sich so oft sehen lassen wie sie wollen. Millionenfach. Viele Frauen glauben, es wären ihre, aber es sind meine. Ich muß diesem Gesellschaftsmitglied hier leider mitteilen: Alles was Sie sehen gehört einer andren: mir! Sonne Wind Wolken Meer also da liegt kein Felsblock auf meinem Mund. Es ist dieser Frauenmund hier, und die Öffentlichkeit ist sein bester Zuhörer. Zaghaft geschwungene Oberlippe, einig mit der einladenden Unterlippe, ja seid ihr denn blind, meine Zähne, daß ihr eure eigene Größe so gar nicht fassen könnt! Sie Frauen tun mir leid, weil Sie Ihre Lippen, Ihre Augen, Ihre Haare nicht dermaßen zuschleifen können wie ich meine. Es setzt von Ihrer Seite her ein Vergleichen ein, doch ich muß mich dem gar nicht erst stellen. Ich stehe ja schon fest. Sie tun mir leid. Tut mir leid, ich bin meinem Körper zugewiesen worden, aber ein andrer Körper hätte mich gar nicht erst genommen. Ich wäre ihm wahrscheinlich zu schön gewesen. Nur dieser Körper erhielt den Zuschlag. Er bleibt bei mir, er gehört mir, das ist sicher. Ich lasse ihn fotografieren, damit ich beweisen kann, falls er wegrennt: er gehört zu mir und darf sich jederzeit gehen lassen. Aber nicht weglaufen! Jetzt hängt er z.B. grade in der U-Bahnstation, wo Sie immer einsteigen, und er hat diesen BH und dieses Höschen an. Brauche ich ihn noch, diesen Körper? Wo er hängt, hängt er ja gut. Doch, ich brauche ihn noch. Was Sie von mir sehen, ist schon alles. Zurzeit sehen Sie mich nicht. Besetzt. Hier ist besetzt. Über mich hinaus ist nichts und passiert nichts. Leere und daß ich mich amüsiere füllen den Raum mit Nebel. Ich habe dieses Parfüm selber kreiert. Etwas Billigeres können wir uns nicht leisten. Mein Herr Körper, mit dem ich mich vorhin noch amüsiert habe, will jetzt wieder berufstätig sein. Ich lasse ihn nicht fort. Er kann auch hier arbeiten. Er ragt in den Raum hinein, zeigt sich vor. Er verzehrt alles, was an anderen Menschen vielleicht eigentümlich aussehen könnte und sie ziemlich problematisch erscheinen lassen würde. Hilfe, mein Körper schlingt mich jetzt viel zu schnell runter! Mir wird schlecht, nein, umgekehrt, ihm wird von mir schlecht. Ich werde von meinem Körper verzehrt! Hilfe! Hätte ich ihn doch weggelassen! Nein, das hätte ich nie getan. Er will nichts über sich hinaus, ich aber will ein Betriebswirtschaftsstudium beginnen. oder eine Schauspielerinnenkarriere. Oder beides zugleich, er will immer wieder beginnen, damit er zu einer eigenen Persönlichkeit ausgerufen wird, die er dann prompt findet, wie ein Osterei. Oh, eine Erzählschwierigkeit, geh sofort weg da! Ich rede jetzt! Ich will jetzt reden! Hier ist besetzt! Bitte nicht nochmal! Bitte nur einmal mich, bitte nicht mich wiederholen! Seien Sie eine andre, seien Sie nicht ich. Mich gibt es ja schon! Was mein Körper da bereits verschlungen hat, eine ganze Menge, leider hauptsächlich von mir, aber er gibt auch was her! Wie schön mein Blick, wie supertoll heute wieder mein Haar! Ich glaube, ich muß mich selbst wieder auskotzen, damit Sie mich noch einmal sehen können! Guten Tag. Damit Sie wissen, wie ich im Innersten bin, kränkelnde Zartheit vielleicht, gesunde Robustheit sicher, egal, Sie werden niemals so sein. Warum erwarten Sie vom Körper, daß er wie ein Gebirgspanorama funktioniert, daß er schön und dabei doch so natürlich aussieht wie es nur die Natur selbst fertigbringt? Das wärs. Sie sind meine Konsumentin. Jemand andrer ist meine Kosmetikerin. Verlassen Sie ruhig und ohne Bedauern Ihre Kleidung, betreten Sie das Geschäft und kaufen Sie sich neue. Es nützt Ihnen nichts. Bestellen Sie sich ruhig meinen Körper, Sie werden sehen, er wird mit Ihnen nicht mitgehen wollen. Sofort loslassen! Das ist meiner! Jaja. Sie können ruhig auf diese Türschnalle drücken, um ihn sich zu holen, Sie werden sehen, die Tür geht nicht auf. Es ist ohnedies besetzt. Der Körper ist nicht dazu da, damit hereinspaziert werden kann. Ich bin ja drin! Es ist Ihnen doch nicht egal, daß dieser Körper mir gehört, oder? Also mir ist es nicht egal. Ich gebe ihn nicht her. Und ich bin immer verschwunden, sobald Sie mich zu Hause auspacken wollen. Nur dürres, glattes Papier, vielleicht noch mit einem Astloch, damit Sie den Durchblick haben, einen entsetzlichen Augenblick des Erschreckens, daß Sie dort drinstecken, mehr ist nicht drin. Mehr ist nie drin. Und selbst das ist Täuschung, denn nur ich bin drin. Das werden Sie schon noch merken. Ich sehe, Sie nehmen mich trotzdem mit. Nicht von hier! Von hier kriegen Sie mich nicht raus. Hier ist besetzt. Ich bin immer eine andre, als Sie gedacht hätten. Auseinander, Sie Frau! O je, mein Bild ist diesmal ziemlich flach ausgefallen. Wenn Sie es trotzdem haben wollen, bitte. Aber hier ist besetzt. Mein Körper gehört mir. Ihr Körper gehört Ihnen nicht, er gehört jetzt auch mir. Also nein, bei näherem Hinsehen merke ich doch: den können Sie behalten. Er würde unter meinen Blicken zerbrechen und welken, sobald er mich als seinen ewigen Spiegel erkennt. Ich bin in Einzelteilen auf dieser weiten Plakatebene ausgelegt, schlank wie immer komme ich Ihnen entgegen, aber nie weit genug. Unaufhörlich rast der Wind über diese Ebene. Jetzt haben Sie sich diesen BH gekauft, für streichelnde Menschenhände, aber die wollen nur mich streicheln. Mein Körper kann von mir aus ruhig ausgelegt werden, es traut sich doch keiner darüber hinwegzutrampeln. Er kann auch gegessen werden. Er ist der einzige Kuchen, der gegessen werden, aber von mir behalten werden kann. Sie haben keinen Anspruch. Jeder hat einen Anspruch, aber dieser hier ist besetzt. Keiner kommt durch. Diese Tür hütet mich. Mein Herr Körper ist das, was hineingekommen ist und jederzeit herauskommen kann, doch er will nicht. Er darf nicht. Sie kommen hier nicht hinein. Sie haben einen Anspruch, aber Sie kommen mir hier nicht herein. Mein Herr Körper ist der, der nichts durchläßt und der, der vorhin als erster schon dagewesen ist und sich irrtümlich in mir eingesperrt hat. Jetzt muß er bleiben. Er muß nicht mehr kommen. Er muß dableiben. Eintretende werden ja oft geschlossen, bevor sie noch die Tür ins Leben gefunden haben. Ich bin ohnedies da. Ich geh hier auch nicht weg. An jeder Frau ist mehr kaputtzumachen als an mir. Bleiben Sie draußen. Hier ist besetzt. Ich bin unartig und stelle mich selbst in den Schatten. Sie sehen mich trotzdem. Sie sehen mich nicht. Sie sehen nur mich. Hier wird von mir besetzt gehalten. Ich reise in der ganzen Welt umher, aber hier ist und bleibt von mir besetzt.

© 1999 Elfriede Jelinek

Der Text "Körper und Frau" wurde zur Eröffnung des Schauspiel Frankfurt unter der Intendanz Elisabeth Schweeger geschrieben. Die in das Stück montierten Texte Elfriede Jelineks stammen aus "Der Wanderer" (1998), "Totenauberg" (1991), "Sportstück" (1998) und einem Essay der Autorin zum Thema "Mode" in der Süddeutschen Zeitung (2000).

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Die Zeit flieht

für meinen Orgellehrer Leopold Marksteiner

Ich war noch sehr jung, als ich bei Leopold Marksteiner ein Orgelstudium begonnen habe. Ich war dreizehn Jahre alt. Für das Kind, das ich ja noch war, aus komplizierten, belastenden familiären Verhältnissen kommend, die es damals und wahrscheinlich bis heute nicht abstreifen konnte, ist es sehr schwierig gewesen, diesen eigentlich für Erwachsene gedachten Unterricht eines großen Meisters allein psychisch überhaupt durchzustehen. Für die Aufnahmsprüfung hat man mich, die ich darauf gar nicht vorbereitet war, aus meiner Schulklasse herausgeholt. Irgendwie hat man da dauernd überlastete Sicherungen, es ist, als würde das Wesen total überfüllt mit Informationen, die einen suchen, und vor denen man gleichzeitig, um sich zu retten, fliehen muß, weil man sonst durchknallt von all dem vielen Strom, der durch einen hindurch- schießt. Paradox. Als wäre die Musik (bei mir dann später, sozusagen als Endstation: die Sprache) die Erde, auf der man geht, aber vor diesem Grund, auf dem man sich bewegt, möchte man immer wieder davonlaufen, was naturgemäß nicht möglich ist, weil man ja sonst ins Bodenlose stürzen würde.

Man geht also auf etwas herum, auf einem Grund, vor dem man flüchten möchte, was eben unmöglich ist. Aber was man tut, während man suchend auf den einen, so sehr gesuchten Ort zugeht, den man aber nie findet (man steht ja drauf!): man bleibt fremd. Weiß aber nicht warum. Denn das da unter den Füßen, das sieht man nicht. Es wird von einem selbst verdeckt. Ich glaube, auch wenn dem Professor, damals selbst noch ein junger Mann, der sicher wenig Erfahrung mit Kindern gehabt hat, diese fundamentale Fremdheit seiner Schülerin bewußt gewesen ist (und die Musik wiederum, die schon seit vielen Jahren, seit frühester Kindheit, von ihr, der Schülerin, ausgeübt worden war, war ja einer der Hauptgründe für diese Fremdheit - allein die völlige Verständnislosigkeit der schicken Mädchen der sechziger Jahre in ihren Partykleidern, mit ihren aufgetürmten Frisuren und Bleistiftabsätzen gegenüber einer zum Orgelunterricht eilenden Schulkollegin, die womöglich noch Geige und Bratsche und eine schwere Notentasche an sich irgendwie angebracht hatte! In diesem Alter ist das wie ein Riß durch die Welt, die sich eh schon zu schnell dreht und der man, wie gesagt, eben nicht davonlaufen kann), so hat er doch, in einem guten, im besten Sinn des Wortes, darauf nicht geachtet. Oder jedenfalls nicht so, daß ich es gemerkt hätte. Daß ihm das alles vollkommen klar gewesen ist, hat er mir erst viele Jahre später gesagt.

Er hat damals jedenfalls seiner Schülerin einen Ort angeboten, an dem die Welt zwar auch nicht langsamer war, an dem man ihr aber etwas entgegensetzen konnte: eine Hörbarkeit des Zeitablaufs. Das, was Musik ist. Ich meine nicht das gurgelnde Verschwinden von Zeit im Abfluß des Radios, des Plattenspielers, später des CD-players, sondern Zeit, die man, in ihrem Verlauf, hören konnte und gleichzeitig selber steuerte, Zeit, die man, in ihrem Ablauf, sorgfältig gliedern mußte, damit man sie nicht verlor (rhythmisch bleiben! Wie hat mich Leopold damit geschunden! Was an der einen Stelle weggenommen wird, das muß an der anderen wieder dazugegeben werden, sonst fällt alles um). Ich bin beim Spielen ja unentwegt immer schneller geworden, als wäre mir mein eigener Pulsschlag vorausgeeilt. Da hat der Professor mich entschlossen, und manchmal mit etwas scharfen Worten, wie soll ich es sagen: eingebremst. Das ist ihm allerdings einmal nicht gelungen, weil er halt nicht neben mir gestanden ist, als ich im Mozartsaal Messiaens „les yeux dans les roues" gespielt habe, in einem Affentempo, bei dem nun ich ganz allein, an seiner Statt, dann buchstäblich neben mir gestanden bin und mir entsetzt bei meinem grausigen Höllengalopp zugeschaut habe, keine Ahnung, wohin ich wollte, aber jede Sekunde habe ich erwartet, diesmal das Ziel zu verfehlen, buchstäblich ins Nichts katapultiert zu werden und mir womöglich dabei selber auch noch entgegen- zukommen, nach dem Verlassen des Raum-Zeit-Kontinuums, na, physikalisch ist das jetzt sicher ein Blödsinn, und außerdem übertreibe ich. Aber damals habe ich immerhin bereits von Anfang an viel zu schnell losgelegt und durfte natürlich, ich wollte ja des Lehrers Ratschlag zu befolgen suchen, diesmal wiederum nicht langsamer werden. Mitgefangen, mitgehangen. Die Musik, die ich ja selbst auf dem Instrument erzeugte, lief neben mir her und schnappte ab und zu böse nach meinen Waden, welche, im Davonlaufen, entsetzt die Pedale traten. So kehrt sich Geschaffenes manchmal nicht nur gegen seinen Schöpfer, sondern auch gegen den Mechaniker, der es zum Laufen bringen soll. Aber doch bitte nicht so schnell! Ich sagte mir, du mußt es können und du wirst es, nein, umgekehrt, du wirst es können und du mußt es. Daß ich beim Abgehen laut „Scheiße" gerufen habe, das sage ich hier nicht, das kann der Leopold selber erzählen, wenn er will.

Da können wir sie also vom laufenden Meter abschneiden, die Zeit, die sich gleichzeitig dem eigenen Ablauf, dem Ablauf derselben Zeit, entgegenstellt, sodaß man für einen Moment glauben kann, zur Ruhe gekommen zu sein, aber das ist dann nur der Augenblick der gebündelten Energie, wenn die Zeit, die man erzeugt, mit der Zeit, in der man lebt, in eins zusammenfällt. Wie einer, der geht und sich ausruhen möchte, das aber nicht kann, weil er merkt, daß er die ganze Zeit schon dort war, wo er ankommen wollte, und, anstatt daß er endlich sein Jausenpaket auspacken kann, entsetzt von seinem Sitz aufspringt. Zufriedenheit im Ausruhen gefällt der Musik nicht. Nein, man kann sich in der Musik nie ausruhen, weil ja auch in den Pausen immer das ganze drinnensteckt. Die Pause ist ein Loch in der Zeit, und die Zeit bleibt, wie gesagt, nie stehn. Sie läuft zwar in zwei entgegengesetzte Richtungen gleichzeitig, aber stehen bleibt sie nicht. Die Musik. Etwas, genau diese Zeit, bewegt sich in einem, auch wenn sie einmal innehält, und man ist gezwungen, immer nur auf den einen Ort zuzugehen, wo man diese Bewegung in sich, während man selber auch arbeitet, aber sich dabei nicht von seinem Platz fortbewegt, wo man also diese Bewegung, die in einem herumrast, daß es einen fast zerreißt, konservieren kann, aber nicht um endgültig zur Ruhe zu kommen, sondern um in dieser Bewegung, Bewegung im Stillstand, bleiben, ausharren zu können.

Musik macht einen fremd, obwohl ja alle dauernd Musik hören, der eine dies, der andre das, man kann sich ja kaum vor ihr retten, sie ertönt einfach überall, manchmal fast nur noch als Wummern von Bässen, und trotzdem: wenn man sie selbst erzeugt, die Musik, wird man dabei, auch für sich, gleichzeitig etwas Fremdes, nicht so fremd, wie die Komponisten es gewesen sind, aber doch, denn ihren Rufen folgt man schließlich, und wohin sie einen locken, das sollte man wissen, wenn man ordentlich geübt hat (o je!), aber wenn wir dort angelangt sind, dann bricht eben auf einmal dieser Boden unter uns ganz weg, wir sind selber ganz weg, und wir wissen, daß wir nicht mehr gemütlich unter uns sind, sondern daß das, was unter uns ist, sich bewegt - wie die Zeit. Keine Rettung. Danke für diese Erfahrung an Leopold Marksteiner.

© 1999 Elfriede Jelinek

Aus einer Festschrift zum siebzigsten Geburtstag Leopold Marksteiners.

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Das Schweigen

Schauen Sie, wie kann der erwachsene, alleinstehende Mensch in seiner natürlichen Trägheit im Schreiben wirksam werden? Wie schön und still ist es zur Zeit noch in ihm und um ihn. Aber nicht mehr lang. Irgendwann muß er aufstehn, das Schöne als noch schöner empfinden, das Schreckliche als noch schrecklicher, und dann soll er es gefälligst gefällig ausdrücken. Also, da hält er jetzt endlich was umschlungen und verfaßt seine Schriften, die aufgehn sollen, sobald ihr Same im Beet feststeckt. Gut. Das Beet ist voll. Was ist das Problem? Diese Werke, sie sind, obwohl dicht gesät und überhaupt toll, doch irgendwie gleichzeitig leer und voller Irrtümer. Ich sage großartig: mein Werk über Schumann wird das einzig mögliche sein. Es wird das einzige bleiben. Es wird das Bleibende bleiben. Und dann sage ich lange gar nichts mehr. Jetzt soll ich also dem Geistesschlaf von diesem Menschen auch noch etwas Farbe geben! Ich verlange es von mir. Irgendwas muß ich ja tun, um mir gerecht zu werden. Zu niemandem bin ich so gerecht wie zu mir. Indem ich Schumann gerecht zu werden suche, bin ich gerecht zu mir. Ich muß mir dieses Werk abringen, weil es mich sogar im Schlaf noch würgt. Und das Werk soll dann auch noch von allein stehen können, in einem Bücherregal, in der Ewigkeit, in einem Haus, an einem langen Sonntagnachmittag im Bett, am kürzeren Ende eines Asts. Und sobald es das endlich kann, soll es auch schon fürs Ganze stehn und fürs Einzige über den Komponisten Schumann gelten, den Sie sicher von etlichen Radiosendungen und CDs kennen. Umso schlimmer. Wahrscheinlich werden Sie darüber hinaus gar nichts mehr erfahren wollen. Das kommt noch dazu. Die Musik wird Ihnen völlig genügen, sie ist ja das Genügsamste, sie braucht nur etwas Strom und ein paar Geräte. Ich werde sagen: meine Schrift über Robert Schumann, und Sie werden sofort wissen, was ich meine. Ich sage: meine Schrift, und ich sage meine Schrift über Schumann. Obwohl ich kaum Noten lesen kann. Was ich nicht sage. Schon herrscht die Stille, erwartungsvoll, die Stille, die Sie nicht kennen, weil sie natürlich bei Ihnen nie herrscht, also bei mir darf sie es: herrschen. Nicht solange sie will, aber zumindest solang bis das Wort kommt, Achtung, jetzt kommts! Nichts kommt. Kein Wort. Alles bleibt still. Welch ein Verlust! Wäre es gekommen, es wär ein gutes Wort gewesen. Also ich befreie jetzt das Wort von seinem Kommen. Vielleicht kommts dann schneller, wenn es nicht kommen muß. Nein, wieder nichts. Hinsichtlich Schumanns muß ich nicht einmal die Worte Wahnsinn, Klavier, Kinderszenen, Sonate, Clara aussprechen. Es genügt zu sagen: meine Schrift über Robert Schumann. Und damit habe ich auch schon den Durchbruch durch eine Mauer unverständigen Schweigens erzielt. Hab mich recht elegant durchgezwängt durch die finstren Möbel, die andre aufgestellt haben, in deren Staub sie mit dem Finger Kringel, Ziffern, Wörter gemalt haben. Durch das Unwesen von andren, das es in einem hübschen Park lustlos mit sich selbst treibt. Dort bin ich auf einer Bank gesessen und hab es beobachtet, bis eine junge Mutter die Polizei gerufen hat. Ich habe mir doch keine Freiheiten herausgenommen! Was ich mir erlaubt habe, war nichts als ein Rückwurf auf mich selbst. Eine Freiheit gegen mich, also äußerste Unfreiheit, verhängt über mich. Denn wo Schumann draufsteht, bin jetzt ich drin. Schumann raus, ich rein! Ich strebte also in Richtung Schumanns, bitte, da ist ja schon seine kleine Statue, hier meine Schrift, dort ist mein hoher Status, grüß Gott, Sie auch da? Eine kleine Menge von Lesern folgt mir erwartungsvoll und erbarmungslos, sie erwarten sich natürlich einiges von mir, bloß um mir endlich zu widersprechen, und wärs nur bezüglich dieses Komponisten, der einige von ihnen interessiert , die anderen aber nicht. Doch alle, alle wüßten Besseres zu sagen, egal über wen. Schauen Sie sich diesen Anfang an - eine einzige Verweigerung! So kann keiner angefangen haben. Ich begann trotzdem zu schreiben. Die Haushälterinnen kamen und gingen, schweigend, niemand sonst darf da sein und sprechen, wenn ich schreibe. Auch wenn ich nicht schreibe, darf keiner, außer mir, sprechen. Ich begann also. Ich kam und ging, sprechend, und nur über einen einzigen schweigend: Schumann. Schweigend, indem ich nichts tat als über meine Schrift zu sprechen. Doch es genügte, um den Namen Schumann zu verschenken, wie ein Handy, das man in der Zeitschrift gewinnen kann, zusammen mit der Anmeldegebühr, daß man an den Gesprächen überhaupt teilnehmen darf. Ich baute mich als Werk also recht nett rings um Schumanns Werk herum auf und möblierte mich; wo sind die Blumen, so, fertig! Schon können Sie Ihre eigenen Beobachtungen über Schumann machen und meinen sofort widersprechen. Alle Beobachtungen, egal welche, werden von mir naturgemäß sofort wieder verstellt. Ich bin ja größer als sie. Nein, ich rücke nicht beiseite, das ist nicht nötig. Schumann sollte in meiner Schrift, die da kommen sollte, sozusagen das Kommendste überhaupt werden. Doch dann kam er nicht. Auch nicht als ein Teil von mir. Das schon gar nicht. Er kam einfach nicht. Da war nichts zu machen. Vielleicht hatte ich mich in der Ankunftszeit geirrt. Er war was er war und wofür allein sein Name gebürgt hat, höchste Qualität. Anerkannte Qualität. Man kann sagen, ich bin kein Freund Schumanns, ich bin eher ein Freund von Brahms und Schubert, aber ich bin ein Freund von Qualität. Aus diesem Grund bürge ich doch für ihn. Ich bürge nur für die allerhöchste Qualität. Sonst kann ich für niemanden bürgen und für nichts garantieren. Einer der größten Komponisten ist er, uns allen gegeben, damit wir die Wächterschaft über ihn übernehmen, daß keiner was Falsches über ihn sagt. Und ich der Wächter über die Wächterschaft. Sprechen darf grundsätzlich jeder, weil jeder es kann. Auch ich tu ja nichts anderes. Kann man sagen, ich habe Schumann benutzt, um ihn, gerade indem ich über ihn redete, vollständig auszusparen? Das wäre dumm, bei all der Mühe, immer nur mich selber niederzuringen, Einbrecher und Wächter in einer Person. Ich soll über ihn geredet haben, damit ich nicht über ihn reden mußte? Es ist, als ob die Armut verarmen, der Reichtum endlich wirklich reich werden müßte. War die Menge mir noch bereitwillig bis zu mir gefolgt, die Leute sind ja immer neugierig, wenn sie sehen können, wie einer lebt, Möbel und so, ein Landgut, ein Mercedes Diesel, bis zu mir war sie mir also gefolgt, die Menge, wie sie vorgab, nur um Schumanns Einzug in mein Werk mit mir, auf mir, in die Öffentlichkeit zu tragen. Um sich dann sofort daneben zu stellen, damit man sie nicht übersieht. Denn dort, neben die Großen, dort gehört sie hin, die Menge, die sich für verständig hält, aber nicht einmal den Busfahrplan an der Haltestelle versteht. Sie alle kennen doch Schumann, wer kennt ihn nicht. Wer liest, der kennt auch Schumann. Wer hören kann, der hört ihn auch. Wer liebt, der weiß zumindest wen. Und brannten sie nicht darauf, all die Leute, mir mein Sprechen über ihn, Schumann, zu verweigern, sobald ich auch nur ein Wort über ihn sagen würde, und ihres, ihr Sprechen, an die Stelle von meinem zu setzen, egal was ich sagen würde, sie wüßten es in jedem Fall besser. Doch bald merkten sie, enttäuscht, doch erleichtert, merkten sie also, jetzt oder nie würde ihr ganz persönlicher Schumann-Tag kommen. Und dann kam er nicht - was wissen wir nun über den Komponisten, da sein Tag geko men und wieder gegangen war? Mehr oder weniger? und wieder gegangen, ungenutzt, ohne daß ein ganz neuer Schumann von mir gegründet worden wäre, bei dem sie als erste sofort Mitglieder werden dürften. In jedem Fall wüßten sie andres, besseres über ihn und brannten darauf, es auch zu sagen, etwas, das viel eher wert gewesen wäre, in den Abgrund meines Sagens geworfen zu werden, um ihn zu erhellen, denn ich hätte ja selbst keinen Schimmer, das stünde jetzt doch wohl fest! Doch sie würden nie zu Wort kommen. Auf die Unbekannten hört man ja nicht. Kein Wunder, ich habs ja, das Wort, zu dem sie kommen wollen; ich bin am Ball, und hergeben tu ichs nicht mehr. Ich spreche also über Schumann, doch ich bin, was ihn betrifft, nie Ihr Gesprächspartner. Ich sagte also, versuchsweise: Schumann ist letztlich die Stille, in die er mündet. Versuch mißglückt. Zweiter Versuch. Meine Schrift über Schumann entsteht, ja, es handelt sich nur um sie, und mit Entsetzen sehe ich die Verwüstung auf meinem Schreibtisch, in meinem Haus, das ich jetzt verlasse, um nach Mallorca aufzubrechen, nach Palma, aber es handelt sich um das Gegenteil einer Schrift. Meine Schwester wollte zu Besuch kommen, bevor ich abreiste, eine entsetzliche Frau, und doch die einzige, die ich ertrage. Mit einem noch entsetzlicheren, jedoch sehr vermögenden Mann verheiratet gewesen, einem Korkenzieherfabrikanten aus Solingen, doch jetzt kommt sie nicht. Es hat keinen Sinn, wenn sie kommt, denn ich bin weg. Die Schrift. Sie entsteht, indem sie nie entsteht, indem aber unaufhörlich von ihr die Rede ist. Die Schrift übernimmt nun die Vormacht über mein Sprechen, indem sie, als Schrift, nur noch schweigt und schweigt, und das Sprechen natürlich nie ankommt, weil dort, wo sein Zielbahnhof wäre, das blöde Schweigen jetzt steht und nicht abhaut, ich glaub, es hat eine Panne. Und keiner fährts weg. Indem sich die Schrift mi verweigert, kann ich erst mit dem Sprechen anfangen, so ist das mit mir, und ich spreche über nichts sonst als diese Schrift. Doch indem ich spreche, merke ich, was ich vorher schon ahnte: sie ist ja gar nicht mehr nötig, die Schrift! Plötzlich bleibe ich stehen. Ich sage die Schrift, und ich sage die Schrift auf, indem ich gar nichts sage und gar nichts schreibe. Bitte. Jeder Anfang öffnet sich und bleibt dabei schon seinem Ende zugeneigt, wo er ja schließlich hin muß. Dazwischen die Schrift, die will auch noch hinein. Ich habe entsetzlichen Schwierigkeiten, aber das macht nichts. Davon handelt schließlich die Schrift über meine Schrift. Die Leute könnens gar nicht erwarten, von meinen Schwierigkeiten Näheres zu erfahren. Schumann interessiert sie nicht mehr, meine Schwierigkeiten interessieren sie viel mehr. Von denen ist mehr zu erwarten als von Schumann. Von dem haben sie schon alle CDs. Von dem haben sie alle längst genug. Schwierigkeiten haben sie jedoch alle, Schwierigkeiten, die kennen sie. Und von dem, was sie schon kennen, können sie gar nicht genug kriegen. Und es freut sie natürlich, wenn auch andre etwas haben, das sie kennen, nur eben anders. Schumann kennen sie, nur anders, und mehr müssen sie über ihn gar nicht wissen. Er ist grade so angenehm zu hören! Er ist grad im Radio! Die Schrift wird derweil für mich aufgehalten, ich darf jetzt hinein. In Ordnung. Ich gehe also hinein und hinaus, je nachdem, was ich mir abverlange, doch Hauptsache, es ist in meiner Schrift von dieser Schrift die Rede. Mehr braucht sie nicht, die stille Schrift, als daß von ihr die Rede ist. Ja. Glauben Sie nicht auch, daß die ganze Geschichte, die wir zum Glück nicht zur Gänze erlebt haben, nur deshalb wahr ist, weil sie aufgeschrieben wurde? Gewiß nicht. Sie ist ja überhaupt nicht wahr, ob aufgeschrieben oder nicht, man kann sie doch niemals so aufschreiben, wie sie stattgefunden hat. W er würde das alles denn glauben? Das kann doch nicht wahr sein, daß das alles wahr sein soll! Nichts als eine Schrift, auch sie. Aber eine, die nie entsteht. Genau wie meine. Die auch nie entsteht, indem sie entsteht. Ein leerer Papiersack. Sie ist unserem Denken aufgetragen, indem sie geschrieben wurde, doch sie wurde ja gar nicht geschrieben! Was für eine Erleichterung! Die Leute glauben nur, sie wäre geschrieben worden. Wieso hat sie dann nie einer gelesen? So ist das mit dem Wesen der Wahrheit, die es nicht gibt, obwohl sie überall geschrieben steht. Ein blinder Fleck, der aufgeschrieben wurde, indem er nie aufgeschrieben wird. Indem um ihn herumgeschrieben wurde. Um einen blinden Fleck. Und weil sie nicht geschrieben wird, die Wahrheit, stürzen ihr Anfang und ihr Ende immer wieder zusammen, weil nichts sie hält. Sie stürzen sich aufeinander, kann man sagen, indem sie nicht geschrieben werden, nicht gestützt, nicht Anfang, nicht Ende, egal von was, sagen wir halt: Geschichte, indem sie ununterbrochen geschrieben werden, Anfang, Ende, Anfang, Ende. Nicht einmal auf den ersten Tag konnte man sich bisher verständigen, an dem die Wahrheit der Geschichte ihren Anfang nehmen sollte, wieso? Indem ich es schreibe, egal was, entbinde ich Sie davon. Indem ich schweige, zeige ich Ihnen das Innigste, mein Innerstes, das Nichts, das da entsteht, indem ich daran schreibe. So festige ich meine Herrschaft. Indem ich nichts sage, was dann gegen mich verwendet werden könnte. Indem ich alles sage, das ich aber überhaupt nicht sage. Bitte, die Geschichte macht es vielleicht anders, sie entbindet uns, sie zu schreiben, indem sie sich selbst schreibt. Und was herauskommt, um es zu entziffern, ist: nichts. Niemand kann es lesen. Niemand muß es lesen. Es ist nur geschrieben, um nicht geschrieben zu sein. Mein ganzer Körper nur noch ein einziger Schmerz. All die Menschen, die um ihre Geschichte enteignet werden, indem sie sie erleben mußten Und zwar, indem sie gar nichts erlebten. Was, Sie haben das alles erlebt? Aber hier steht es nicht, und hier auch nicht! Es kann also schon mal so nicht stimmen. Der Schicksalsfaden - längst nutzlos abgespult, doch nicht verstrickt! Die Armen! Zwischen den Armen! Und keiner, keiner schreibt über sie und ihre mißtrauischen Empfindungen und die besorgten Gesichter ihrer Eltern, die glaubten, auch aus ihren Kindern würde einmal etwas werden. Ich kann doch nicht alles alleine machen. Ich kann nur über die Größten von ihnen schreiben, mehr Platz habe ich nicht. Für die Kleineren: weniger Platz in mir. Die größten der Namen werden mir soeben gereicht, damit ich sie verwende. Sie schauen und schauen wieder weg und werden doch nicht vergessen. Sie haben ihre Aussichten an der Kasse schon eingelöst, während andre noch, mit strahlenden Gesichtern, auf die herrliche Landschaft vor sich blickten. Sie müssen sich nicht mehr anstellen, die Großen. Die Vergessenen können von mir aus jetzt gehn. Ich lebe allein für mich, und ich lebe nur in meiner Schrift, die umso unerschöpflicher ist, als ich es bin, der sie aus sich herausholt. Die Vergessenen haben wenigstens für ein bißchen Sonne auf einem Berg oder ein bißchen Regen in einem Gesicht gelebt, nur ich, ich lebe nicht, für nichts. Ich schöpfe. Ich lebe nicht. Die Sonne ist nichts für mich. Der Wind ist nichts für mich, und der Regen ist ganz besonders nichts für mich. Ich nehme Schal und Haube und Tabletten gegen das Wetter. Ich lebe schließlich, doch ich lebe ausschließlich, damit mir nichts passiert. Die Geschichte lebt davon, daß das und das passiert ist. Und die Geschichte ist tot, weil sie nicht aufgepaßt hat. Sie ist gestorben, weil ihr das und das passiert ist. Einer sollte uns wirklich zusammenbringen, uns und das von uns nicht, niemals Gesagte, damit wir endlich voneinander abweichen können und : endlich endgültig schweigen dürfen, einig mit uns.

© 2000 Elfriede Jelinek

"Das Schweigen" wurde am 27.5.2000 im Deutschen Schauspielhaus Hamburg, im Rahmen des Theaterfestes aufgeführt. (Jossi Wieler/André Jung)

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Alleinsein

Für Jutta Limbach

Wer nicht sauber und ordentlich lebt, kann völlig verkommen, wird dem Mann von seiner Mutter gesagt. Wer ordentlich ist und trotzdem lebt, dem geht es auch nicht sehr gut, denke ich mir. Zur Ordentlichkeit wird die Frau angehalten, und der Mann, der kommt als Räuber und schmeißt alles überall herum. Die Frau macht die Hausarbeit und versucht, den Sohn dazu anzuhalten. Oder die Schwiegertochter soll es dann machen.
Alleinsein ist meist die Voraussetzung fürs Denken, aber die Frau ist selten allein. Der Schmutz, die Unordnung sind bei ihr, damit sie entfernt werden. Eine Frau kommt selten allein, wie das Unglück, sie kommt oft mit ihren Freundinnen oder sie kommt mit einem Mann, und sie ist überhaupt selten allein. Es soll niemand allein sein, wird gesagt. Außer er denkt nach. Aber die Frau: Allein daß sie denken darf, muß sie sich noch erkämpfen, wie auch den Raum, in dem das Denken stattfinden soll. Schon Virginia Woolf hat darüber schreiben müssen. Das Alleinsein ist harte Arbeit, aber dennoch erstrebenswert. Auf dem Boden bleibt eine Lacke Erinnerung zurück, eine Pfütze, aus einer sorglosen Jugendzeit. Da war das Mädchen auch mit anderen zusammen, aber dabei auch, mit den anderen, allein, ganz wie gewünscht. Damals hatte sie noch keinen Zweck, sie war noch nicht auf etwas hin ausgerichtet, ein Zeiger auf einem Kompaß, der immer in dieselbe Richtung zeigt, nach Norden. Wer will schon allein sein? Wer darf schon allein sein, ohne daß er seinen vorgesehenen Rahmen sprengt?
Man erkennt da plötzlich einen Mann und weiß nicht, daß er der eigene Sohn ist, der damals Vati erschlagen hat, und man heiratet ihn womöglich, Vati ist ja nun tot, und es bleibt der Sohn, was er ist und was schon der Vater war, alles in einem, Sohn und Vater, also Mann, ein Leben lang. In einer Kette von Verfluchungen und Kriegen stürzen die ineinander verkrallten Körper auf die Welt herunter, und einer, immer der falsche, stürzt in das Bett von Mami, wo er bleibt, aber nur, um jederzeit mit der Meute mitzurennen. Vatermord und die Mutter zu heiraten, das geschieht alles nur, damit man anderen die Schuld geben kann, und auch derzeit wieder ist ja die politische Aufschaukelung von Terror und Pazifizierung, Krieg nennen es andere, ist diese Aufschaukelung also eine Art Aufladen der Gegenwart mit Männlichkeit, die die Weiblichkeit verdrängt, aber die war je schon verdrängt, in denselben Ländern, die den Terror bei sich beherbergen und nähren. Einer fängt immer an. Wer fängt an. Der Vater hebt an der Wegkreuzung als erster die Hand gegen den Sohn, den er verjagt, verstoßen hat, er erkennt ihn nicht und muß selbst dran glauben. Die an etwas glauben, erheben alle wie auf Kommando die Hände gegeneinander, ein Kommando, das ihnen angeblich Gott gibt, das sie sich aber selber geben. Kein Weibliches hindert sie, die Frauen sind ja Kriegerwitwen oder tot, und ihre Kinder werden schon gegen sie gerichtet erzogen (das ist leicht, denn sie kennen Frauen nicht, so wie Oedipus seine Mutter nicht kennt, aber immerhin erkennt, daß sie eine Frau ist. Daher muß die Frau total total total verhüllt werden, damit man nichts an ihr mehr erkennt und auch sie im ganzen nicht, damit man nicht weiß, wer sie ist. Da ist sie am besten gar nichts), die Hände werden also erhoben, die Fäuste geschüttelt, es können gar nicht genug sein, und es werden ihnen noch mehr Fäuste zurückgeschüttelt, alle mit Waffen, die einen wie die anderen. Dann wird die Mama geheiratet, die Witwe des Vaters.
Dem individuellen Verbrechen der Verstoßung der Söhne, des Vatermords und der Mutterschändung stehen ganze Verbrechensteppiche gegenüber, denn die Menschen haben aus den Verbrechen der Einzelnen offenkundig nichts gelernt. Da ist Jesus gestorben, und was haben wir daraus gelernt? Nur wenig. Also wird zu kollektiveren Bestrafungstechniken gegriffen, um denen, die das Unheil ereilt, ein Gemeinschaftserlebnis zu verschaffen, das der kollektiven Bedrohung durch einen Feind, den man nicht sieht, entspricht. Wer Gott nicht hören will, muß fühlen. Wer den einen, einzig richtigen Gott nicht hören will, muß noch mehr fühlen. Dem gebührt der Tod. Es werden Felder ausgelegt, Teppiche aus Bakterien (und Seuchenteppiche dagegen), die Pest kommt ins Haus, das früher Theben genannt wurde, Bakterien kommen, die Angst vor Bakterien kommt auch noch mit, und der einzelne Kranke verschwindet in einer Vielzahl von Kranken (oder solchen, die die Krankheit bloß befürchten), die durch Ansteckung vereint sind. Auch ein Volksganzes, auch ein kollektives Erlebnis. Es entsteht eine Art von Gemeinschaft, denn im Unglück ist keiner gern allein, ein Kollektiv der Krankheit, wie man es seit den großen Seuchen nicht mehr gekannt hat. Eine große Zahl von Menschen ist angesteckt oder könnte bereits angesteckt sein. In der allgemeinen Furcht ist das Erkennen der Krankheit nicht mehr das Problem, denn zutode gefürchtet ist auch gestorben. Es tritt nicht mehr ein einzelner Vatermörder und Mutterschänder auf, die Gewalt des einzelnen gilt nichts mehr, es treten Mikrobenschwärme an, zahllose Mikroorganismen, um Menschen in großer Zahl krank zu machen und zu töten. Der Massenvernichtung tritt die Massenbestrafung gegenüber, aber Bestrafung wofür? Und ist diese Massenbestrafung etwa die Folge einer einzelnen Missetat, die kollektiv verdrängt oder vergessen wurde, zum Beispiel der Hybris des Westens, wie man uns glauben machen will? Nein. Besser es ist die Tat eines einzelnen Menschen, der, gestärkt durchs Fernsehen, größer ist als andre und für alles, aber auch alles verantwortlich ist. Das macht ihn übermenschlich groß, groß wie Ödipus, dessen Leid so groß ist, daß keiner außer ihm es tragen kann. Dieser Eine ist jeden Tag im Fernsehen, fanatische Massen jubeln ihm zu, na, für eine Frau wär das nichts. Da müßte sie schon eine schöne Filmschauspielerin oder eine Sängerin sein.
Muß da eine Schuld verdrängt werden? Und wer steht bereit, wenn Schuld privatisiert werden soll? Die Frau. Der Attentäter Atta will nicht, daß Frauen bei seinem Begräbnis anwesend sein sollen, und auch sonst sollen sie ihm fernbleiben, aber es ist ohnedies nichts von ihm übrig geblieben. Die Frau steht fürs Private, für das sie zuständig ist, mit ihrer Arbeit und auch sonst. Was für eine Schuld könnte sie begangen haben, daß ihr eigener Sohn den Vater erschlagen und sie selbst geschändet hat? Irgendwie muß sie selber dran schuld sein und wird daher verhüllt. So kann sie auch besser verdrängt werden. Besser man vergißt sie. Wenn man sie nicht sieht, kann man sie leichter vergessen und damit ausschließen. Sie gebärt ja auch dauernd andre Menschen, die dann leider für Krankheiten anfällig sind. Sie kann den Übermenschen nicht gebären, der immun gegen Alles wäre. Und dieser Ausschluß der Frau mündet in eine neue Art totalen Kriegs, glaube ich, oder in die totale Krankheit, was dasselbe ist, die Krankheit, welche die Frau eingeschleppt hat, indem sie Menschen in die Welt gesetzt hat, die krank werden können. Und nicht einmal mehr die Krankheiten werden neuerdings von Mensch zu Mensch übertragen, die werden jetzt in Briefumschlägen verschickt, als hochansteckendes Pulver, und die letzte Folge ist dann naturgemäß, daß auch Menschen nicht mehr von Mensch zu Mensch übertragen und von Frauen ausgetragen werden, sondern von Maschinen.
Daß es die Einen gegen die Anderen gibt, und daß die Schuld entweder bei den Einen oder den Anderen liegt, diese Zuweisungen vom einen zum anderen, ohne daß man die Kontonummer weiß (und oft ohne daß man überhaupt ein Konto hat), das führt doch auch dazu, daß einer durch Blindheit gestraft wird und dafür dann die ganze Gemeinschaft diese ursprünglich private Lesart einer Familiengeschichte übernehmen muß, damit man selbst, damit die Gemeinschaft nichts Schweres mehr zu tragen hat: Burli hat also den eigenen Vati erschlagen und dann die Mutti geheiratet, habt ihr das schon gehört. Unerhört. Und es fehlen die Frauen, die es weitererzählen könnten, auch dies wäre ihre Aufgabe. Oder daß das Geheimnis der langen Haare (und Bärte?) von einer Geliebten enthüllt wird, das Haar wird daraufhin geschoren, der Mann verliert seine Kraft und wird augenausgestochen, die Blendung als verhängte Strafe oder als Selbstbestrafung, weil man eine Frau, die Frau an sich, angeschaut hat, und daher absolut gar nichts mehr sehen darf, da man dieses Tabu gebrochen hat, na, helfen wir ihm dabei und verpacken wir die Frauen so, daß man sie nicht sehen könnte, nicht einmal, wenn man wollte, und man will immer; so driften sie dahin, die Protagonisten von Gewalt, die, scheinbar ungeboren und ungezeugt (und daher für ewig auf Geburt und Zeugung fixiert) als die Waffe schlechthin durch die Länder gleiten, die Schläfer, die vom Paradies träumen. Und sie umschiffen auf ihrem Weg alle, vor allem aber umschiffen sie sorgfältig die blinden Seher, welche immer schon ein paar Tage zuvor gewußt haben, was für ein Fluch es ist, überhaupt etwas zu wissen, denn Wissen ist Tun, und daher wäre es besser, das Wissen zu vergessen oder gar nicht erst zu wissen oder gar nicht erst zu kommen, um zu sagen was man weiß, egal, diese einsamen, von den Frauen ausgestoßenen (im wahrsten Sinn des Wortes!) und von sich selbst geblendeten Menschenwaffen also, betrunken von sich selbst, die stecken jetzt ihre Claims im Nichts ab, ihre Ansprüche auf nichts, nein, auf das Nichts, denn es muß ja immer das Absolute sein, und Alles können sie nicht haben, und sie wollen immer nur tun, nicht wissen. Und so gehen sie aufeinander los, diese Männer, nicht aufeinander zu, und sie sagen die Wahrheit, ohne sie zu kennen und ohne sie sagen zu wollen, und es ist immer die eigene Wahrheit, in der sie die des anderen nicht sehen wollen, sie sind ja alle geblendet (worden). Und die Frau? Die hat natürlich vergessen, ihren Samson zum Friseur zu schicken, und so wachsen seine Haare beim Drehen der Mühlenräder, am Brunnen vor dem Tore, wieder, und so stürzt er die Mauern, und die stürzen über ihm und den Philistern ein. Das ist dann immer das Ende, daß Mauern einstürzen und Menschen begraben, die einen wie die andren. Das ist immer der Anfang, daß noch mehr Mauern einstürzen und noch mehr Menschen begraben werden müssen unter den dumpfen Trommelschlägen von endlosen Auseinandersetzungen. Wer von ihnen singt und spricht, hat auch schon Schuld an ihnen. Und es ist ein alleiniges Sprechen in die Leere hinein, zu solchen, die nicht hören. Wenn man allein ist, kann man jeden beschuldigen, aber man kann ihn wenigstens nicht umbringen, er ist ja nicht da. Das wäre einer der Vorteile des Alleinseins.

© 2002 Elfriede Jelinek

Beitrag für einen Geschenkband zum Geburtstag von Jutta Limbach

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Frauen

Wir gehen jetzt hier herum, weil wir sind, was wir sind: Frauen. Wir gehen also aufgrund unseres biologischen Seins, denn wer fragt danach, wer oder was wir wirklich sind. Wir sind eine Gruppe, die ihre Interessen durchsetzen muß gegen eine Regierung, die ihr Rechte nehmen oder gar nicht erst gewähren will. Auch Rassisten gründen ihre Vorurteile ja auf Biologisches. Sie sind gegen bestimmte Menschen, weil die sind was sie sind, wofür sie natürlich nichts können. Nicht durch Leistung können sie sich in die Gunst der Rassisten hineinschmuggeln, nur manchmal durch Schönheit, wie schwarze Models beweisen, so ziemlich das einzige gesellschaftlich sanktionierte Auftreten, das ihnen zugestanden wird. Für uns scheint, außer Schönheit, noch die Mutterschaft übrig zu bleiben, "familienfreundlich" nennt sich die neue Politik. Die Frau ist ihre Familie. Doch sie wird einerseits, als Mutter, fetischisiert, andrerseits verachtet, mit Almosen abgespeist und vom Arbeitsmarkt möglichst ferngehalten. Also unser Sein als Frau wird vorausgesetzt, es gehört sozusagen zu unserem Seinkönnen in der Welt, und sonst bleibt uns nichts, wenn wir es uns nicht eigens erkämpfen. Mir scheint da, zwischen dem weiblichen Sein und dem des Künstlers, der Künstlerin, genau diese Parallele zu bestehen: einerseits fetischisiert, von der Öffentlichkeit als "prominent" vergötzt (man zehrt auch gern vom Ruhm, den "unsere" Künstler, am besten im Ausland, möglichst weit weg, erwerben), andrerseits als Staatskünstler diffamiert, als Gutmenschen verachtet, als political correctness-Fanatiker lächerlich gemacht. Da oszilliert man also zwischen zwei Formen des Existierens, die beide eigentlich irreal sind. Der Grund eines anderen, einfach nur: zu sein, wird von Leuten in Frage gestellt, die auch nichts anderes sind als der, dem sie seine bloße Existenz nicht zugestehen mögen. Den nennen sie "anders", und daher soll er nicht sein, zumindest nicht bei uns. Der Grund, einfach nur: zu sein, wird also in Frage gestellt. Er darf zwar für uns arbeiten, aber sein wie er ist, das darf er nicht. Er soll anders sein, dann wäre er wie wir. Nein, dann wäre er immer noch nicht wie wir. Er wird nie sein wie wir, egal was er tut. Wir definieren ihn, das ist unsere Macht, wir sind sein Maß. Es wird ihm, ihr keine Voraussetzung zu sein ermöglicht, weil sie immer ein Dazwischen bleiben müssen, die Frauen, die KünstlerInnen UND die Fremden, die am gefährdetsten sind. Sozusagen zwischen sich und sich in der Luft hängend sind sie alle. Als wären sie unentdeckte Kontinente, die erst erschlossen werden müßten, damit man ihre eigene Wahrheit versteht. Aber an der scheint im Moment niemand interessiert zu sein. So werden wir uns wohl weiter endlos sorgen müssen, um Kindergartenplätze, um Arbeitsstipendien, um Räume, unsere Kunst vorzuzeigen, und so weiter, und nur in der Sorge um etwas werden wir sein können. Ein Negativ im Negativ. Es ist seltsam, daß man entschlossen sein und kämpfen muß, nur damit man da sein darf, und das Da Sein will, da schließt sich der Kreis, der Rassist dem Anderen, jedem Anderen, nicht gönnen. Deshalb gehen wir jetzt halt los und schauen mal, wo wir ankommen werden. Dann werden wir weiter sehen.

© 2000 Elfriede Jelinek

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ÜBER ELFRIEDE JELINEK


Das Theater ist so alt, dass es vielleicht neue Stücke gar nicht nötig hat. Nur Elfriede Jelinek widerlegt diese These regelmäßig. Unter den lebenden Theaterautoren gibt es kaum einen, dem es wie ihr gelingt zu zeigen, dass man auch heute noch fürs Theater schreiben kann, ohne epigonal zu sein. Ihre Verzweiflung an der Sprache macht sie zu einer großen Sprachkünstlerin, ihre Verzweiflung am Theater zu einer großen Theaterautorin. Ihre unzeitgemäß zeitgemäßen Stücke lassen sich nur inszenieren, wenn man sie gewissenhaft missbraucht. Das ist schwer. Ich kenne keine Dramatiker, die die Situation des Theaters in der Gegenwart und die Gegenwart im Theater besser erfassen und niemanden, der mich mit seinen Vorlagen mehr fordert - und so überfordert wie sie.

Frank Castorf

Aus der Fremdheit der Welt heraus erschreibt sich Elfriede Jelinek, auch als Fremde im eigenen Land, ihre eigene Heimat. Da wird kein Schmerz verniedlicht und kein Widerspruch geglättet. Ihre Sprache ist voller Leben und ist deshalb so notwendig fürs Theater. Sprache, die durch ihre Wahrheit sinnlich wird und ganze Körper zum Sprechen bringen kann. Da sind wir verstört und lasen uns von derselben Elfriede Jelinek retten, wenn sie uns dann aus ironischer Distanz auf ihre eigene Heimat schauen lässt. Zum Weiterleben, sozusagen.

Jossi Wieler

Jeder hat eine Meinung über sie, auch alle die, die sie nie gelesen haben. Sie ist eine Pop- Ikone ohne Affirmation. Ihre Wirkung ist extrem: Vulgäre Wut oder Hochachtung. Es gibt nur wenige Autorinnen oder Dichterinnen, die so heftig gehasst und wenige, die so überzeugend geehrt und anerkannt werden. Es ist, als ob potentiell die gleichen Leute, die ihr heute einen Preis geben, morgen im Feuilleton über sie herfallen. Dass die deutschen Theaterkritiker Elfriede Jelinek ihr Beharren auf dem Thema des Genozid an den europäischen Juden vorwerfen, und ihren Gedanken nicht ertragen, dass der Schrecken über einen aus Profitgründen zugelassenen fahrlässigen Mord Angst auslöst vor einem (auch aus Profitgründen) systematischen, geplanten vorsätzlichen Massenmord, weil es ihn gab, das ist doch befremdlich. (...) Besonders die etwas altmodischen, sentimentalischen Theaterleute haben an Elfriede Jelineks früheren Stücken das Individuelle, Einzelpersönliche, Psychologische vermisst. Sie haben sich an den Texten von Elfriede Jelinek gestoßen, sie von sich abzustoßen versucht, sich aber doch herausfordern lassen. Sie sind an diesen Texten nicht vorbeigekommen. Und heute muss die Autorin aufpassen, dass sie nicht zur Klassikerin gemacht wird. Aber da wird ihr schon etwas einfallen.

Stefanie Carp


Das Werk, das wir heute loben, bebt und zuckt in den Fängen der Lüge. Seine erbarmungslose realistische Leistung (die in Wirklichkeit nicht nur die Kleider abzureißen, sondern die Haut wegzuschinden scheint) ist unterwühlt von der Frage: ob solche Erkenntnis und Darstellungstat nicht letztlich einer mutwillig bösen Fiktion, einer haßerfüllten Verleumdung der Wirklichkeit dient. Elfriede Jelinek setzt sich, wie kein Autor sonst, den ich kenne, dem wachen Verdacht ihres Lesers aus – nicht des falschen, sondern des richtigen Lesers -, eine schreckliche Täuschung auf seine Kosten zu betreiben. Ihre Lösung, beunruhigender Weise zugleich Abwehr und Stützung des Verdachtes, heißt Montage. Der Diskurs ihrer Romane, nein, jeder Satz darin, wimmelt von fremden, gleichsam imitierten Stimmen. (...) Als Erzählerin von höchstem Raffinement macht sie von der Lüge Gebrauch, in deren Brei sie schreibt – und wir leben. Von diesem Schrecken der Montage könnte uns nur die Komik der Montage befreien. Manche Buchseite Jelineks hat genug Komik für das Lebenswerk eines Berufshumoristen. Aber ihre Stimmsprünge und Metaphern-Schlägereien machen uns ebenso wenig heiter wie ihre Kalauer: Der Sprache wird der Arm gedreht, bis er ausgekugelt ist. Der Autorin Pein, der Figuren Pein ob der uneigenen Stimme addieren sich zu einer reichen, ja überdosierten Peinlichkeit im Leser.

Ivan Nagel

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